Reset in Sachen Lyrik

 

Aus gegebenem Anlass wird es Zeit, meine Haltung zum Thema Gedichte zu überdenken. Denn ich bin am Freitag Patenonkel eines Lyrikers geworden. Er heißt Jan Wagner, ist 1971 geboren und steht mit seinem neuen Gedichtband Regentonnenvariationen auf der Shortlist des diesjährigen Preises der Leipziger Buchmesse.

Als offizieller Bloggerpate der Leipziger Buchmesse habe ich die Ehre, Jan Wagners Buch zu besprechen und ihn auf seinem Weg zum diesjährigen mutmaßlichen Preisträger ‚social-medial’ zu begleiten. Eine schöne, eine reizvolle aber auch eine nicht ganz leichte Aufgabe. Denn zunächst muss ich mich von ein paar alten Vorurteilen befreien. Die da lauten: Gedichte lesen nur jugendliche Weltverbesserer, unglücklich Verliebte und Arzt-Gattinnen ab 50. Ganz so aus der Luft gegriffen ist das nicht, denn die Zeit, als ich Gedichte gelesen habe, war auch ich ein jugendlicher Weltverbesserer und zugleich mehrmals unglücklich verliebt. Aber Mitte Zwanzig spielten Gedichte eigentlich keine Rolle mehr in meinem Leben. Bertold Brecht, Charles Baudelaire, Gottfried Benn und die lasterhaften Balladen des Francois Villon – mehr gibt mein Bücherregal an Lyrik nicht her. Aber immerhin, so ganz unbeleckt bin ich nicht.

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Trotzdem, um den Lyriker Jan Wagner angemessen würdigen zu können, habe ich in meinem Kopf die Reset-Taste gedrückt. Alles in Sachen Lyrik wieder auf Anfang. Keine Ressentiments, kein Gekicher und Augenrollen mehr bei gefühlvollen Formulierungen. Denn eigentlich passt die literarische Kurzform ja wunderbar in die Zeit. Wer hat denn noch Muße für lange Romane? Kurztext-Dienste wie WhatsApp und Twitter dominieren die Alltagskommunikation. Auch HipHop und deutscher Rap haben hin und wieder durchaus literarisches Potential. Aber damit hat Jan Wager überhaupt nichts zu tun. Das merkt man gleich, wenn man durch seine Regentonnenvariationen blättert. Er ist alles nur kein Pop-Lyriker (das sieht man schon am Buchcover – ohne Gitarre).

Das Buch kam gestern hier an und ich hab´s schon durch. 57 Gedichte auf knapp 100 großzügig formatierten Seiten, dafür braucht ein geübter Romanleser gerade mal eine halbe Stunde. Aber auch hier musste ich die Reset-Taste drücken. Denn Gedichte liest man anders. Aber wie? Kurz musste ich den Impuls unterdrücken, das Buch aufs Klo zu legen, für die erbaulich-verdauliche 3-Minuten-Lektüre. Aber natürlich hab ich das nicht gemacht. Ich bin auch kein großer Vorleser. Trotzdem, Jan Wagners Gedichte kommen gut, wenn Sie man sie vorliest. Es macht mir sogar richtig Spaß. Aber auch das muss ich noch üben.

Kurzum, es steht mir eine sehr interessante Reise bevor. Ich freue mich darauf, die Welt der Lyrik neu zu entdecken. Und dass da noch sehr viel auf mich wartet, das hat mir der erste Schnelldurchlauf durch die Regentonnenvariationen bereits gezeigt.

Ach ja und auf dem Holzweg ist,
der da denkt, das wäre schon
die Rezension.
Die folgt erst noch, nachdem ich gelernt,
wie mir ein Gedicht das Herz erwärmt.

…oder so ähnlich. 😉

Foto Jan Wagner © Villa Massimo Alberto Novelli

10 Kommentare

  1. Ich freue mich schon darauf, dich auf dieser Reise zu begleiten, indem ich in den nächsten Wochen hier mitlese. Auch ich bin in Sachen Lyrik eher unbedarft, wahrscheinlich noch mehr als du, da ich nicht einmal in meiner Jugend Lyrik gelesen habe. Ein paar vereinzelte Bände stehen zwar im Regal (darunter einiges Italienisches, und der einzige neueren Datums ist die Vogelstraußtrompete von Clemens J. Setz), aber von lesen kann keine Rede sein. Ich bin also gespannt, wohin dich deine Reise führt, und wünsche dir viel Freude als Pate von Jan Wagner!

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  2. Das ging ja schnell. Schön, dass du mit deinem Patenkind warm geworden bist. Auch ich war bis vor wenigen Monaten eher zurückhaltend in Sachen Lyrik. Aber dann entdeckte ich Anna Achmatowa, Lasker-Schüler und Mascha Kaleko für mich. Wagner ist ja nun ganz modern und ich bin schon jetzt sehr neugierig, was du alles entdecken wirst.

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  3. Zunächst einmal: Herzlichen Glückwunsch!

    Als ich vor einigen Jahren die Chance bekam, bei der Literaturzeitschrift ]trash[pool einzusteigen, hatte ich auch noch keinen rechten Zugang zur Lyrik, insbesondere moderner; schlechte Deutschlehrer und gelangweilte Dozenten hatten in meinem Kopf so einiges an verbrannter Erde hinterlassen… Inzwischen mag ich zwar bei Weitem nicht alles, stoße jedoch immer öfter auf Autoren, deren kreativer, offener Umgang mit Sprache mich begeistert. Genau wie du musste ich erst lernen, dass man die Texte nicht einfach „nur“ lesen kann; man muss tatsächlich jedes Wort auf die Goldwaage legen. Wie viel Bedeutung Lyriker selbst kleinsten Details beimessen, erlebe ich bei jeder Ausgabe aufs Neue, wenn wir die Druckfahnen herausschicken und dann zuweilen um jedes Leerzeichen gerungen wird. Die Gedichtauswahl überlasse ich allerdings immer noch lieber meinem lieben Kollegen Tibor Schneider (selber Lyriker), da ich mir in dieser Gattung einfach kein gutes Urteilsvermögen zutraue.

    Ich bin gespannt, welchen Zugang du als Prosaleser nun zur Lyrik entwickeln wirst!

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  4. Hallo Tobias,

    da hast du recht – aber seit ich fast ausschließlich digital Musik höre, fehlt mir ein bisschen das frühere Ritual, beim ersten Hördurchgang neuer Alben zugleich das Booklet auf der Couch zu studieren. Eigentlich sollte man Alben ebenso bewusst hören, wie man ein Buch liest. Beziehungsweise: einen Gedichtband.

    LG
    Frank

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  5. Ich bin gespannt : ) Ich las vor einigen Jahren Wagners „Achtzehn Pasteten“ – schöne Gedanken, Formulierungen und Bilder. Beispielsweise „auf den gängen treiben die pfleger wie eisberge vorüber“ (aus „der mann aus dem meer“) oder „einen spiegel trennt nichts vom scherbenhaufen als der nagel“ (aus „houdini im spiegel). Meinen vielen Anstreichungen in diesem Gedichtband ist anzusehen, wie gut mir Wagners Gedichte gefallen.

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    1. Hallo Petra,

      da bist Du echt eine Ausnahme. Ich stelle gerade fest, dass die Lyrik in Deutschland dringend etwas PR in eigener Sache gebrauchen könnte.

      Wenn Jan Wagner den Preis der Buchmesse gewinnen würde, wären wir da einen großen Schritt weiter.

      LG Tobias

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      1. Man liest ja auch immer wieder, wie wenig Lyrik gelesen wird. Ich selbst lese insgesamt auch mehr Sach- und Fachbücher bzw. Romane, aber immer mal wieder gern Gedichte. Wobei es mir leichter fällt, erstere im Blog zu besprechen. Vielleicht, weil Lyrik mir noch „persönlicher“ vorkommt, meine Assoziationen nicht unbedingt denen anderer entsprechen, Lyrik mich anders trifft als andere Texte. Eher wie ein Bild oder ein Musikstück …
        Auch so gesehen sehr schön, dass du dir Gedichte ausgesucht hast : )
        Liebe Grüße
        Petra

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      2. Na ja, ich hab´s mir nicht ausgesucht. Das hat die Jury so bestimmt. Aber ich freue mich darüber und sehe es als Herausforderung und Bereicherung.

        Habe mit Jan Wagners Buch schon schöne Stunden verbracht und bin dankbar dafür.

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