Julia Wolf – Alles ist jetzt

 

Jeder Mann kennt solche Situationen: Die Partnerin ist niedergeschlagen, starrt mit leerem Blick an die Wand, hat Tränen in den Augen. Man möchte wissen, was los ist. Doch sie schüttelt nur den Kopf, will nichts erklären. Nimm mich einfach nur in den Arm, heisst es dann. Ist gleich wieder gut. Und in der Tat, nach einer Umarmung und fünf Minuten ist tatsächlich wieder alles gut. Das Seelenleben einer Frau ist und bleibt für uns Männer ein Rätsel. Je mehr man sich bemüht zu verstehen, desto weniger gelingt es einem. Irgendwann hört man auf, nach den Gründen zu fragen. Von einer schweren Depression bis zu „Ich-hab-nichts-anzuziehen“ ist alles möglich.

Auch bei Julia Wolfs grandiosem Debütroman „Alles ist jetzt“ habe ich nicht hundertprozentig verstanden, warum es der Protagonistin Ingrid eigentlich so schlecht geht. Ja klar, da sind die Dämonen der Vergangenheit und eine nicht sehr harmonische Kindheit. Die Mutter Alkoholikerin, der Vater verlässt die Familie und gründet eine neue. Sie und ihr Bruder sind auf sich allein gestellt. Und dann kommen noch Drogen und an Missbrauch grenzende Erlebnisse mit dem Freund des Bruders hinzu. Es gibt Menschen, für die ist das der ganz normale Alltagswahnsinn. Und es gibt Frauen wie Ingrid, die sich vor Kraft-, Mut- und Hoffnungslosigkeit irgendwo hinlegen und einfach keine Lust mehr haben aufzustehen.

Aber letztlich ist es auch egal, woher die Dämonen der Protagonistin eigentlich kommen. Sie sind da, sie bestimmen ihr Leben, haben es früher bestimmt und bestimmen es auch jetzt – alles ist jetzt. Der perfekte Titel für das Buch. Alles ist jetzt – damit umreißt Julia Wolf die eigentliche Kernbotschaft des Romans. Dass man nämlich Dinge, die einem widerfahren sind, existenzielle Dinge, sein ganzes Leben mit sich herumschleppt. Das berühmte Päckchen, welches man zu tragen hat, die sprichwörtlichen Leichen im Keller. Man wird das alles nicht los, muss lernen damit zu leben. Der eine kann es besser, der andere schlechter. Ingrid bekommt das nicht so gut hin.

IMG_2725
Julia Wolf auf der Leipziger Buchmesse.

Ich bin kein Freund von Therapieromanen. Dieses einfach mal alles von der Seele schreiben, damit es raus ist, schwarz auf weiß irgendwo steht und einen nicht mehr belastet. „Alles ist jetzt“ ist auch kein Therapieroman. Hier geht es nicht ums Schreiben als Therapie, sondern ums Beschreiben eines Seelenzustandes. Und das gelingt Julia Wolf ganz hervorragend. Ach, was sage ich? Es hat mich umgehauen!

Schon auf den ersten Seiten wird man in die Geschichte eingesogen. Julia Wolfs Sprache hat Drive, transportiert die schwere, düstere Stimmung mit einer bewundernswerten Leichtigkeit. Alles nimmt sofort Fahrt auf, man liest wie elektrisiert Seite um Seite und will den leider nur 160 Seiten umfassenden Roman gar nicht mehr aus der Hand legen.

Irgendwann habe ich angefangen, einzelne Seiten laut zu lesen. Dann spürt man die atemberaubende Kraft der Sätze noch deutlicher. Fast schon poetisch verdichtet, irre intensiv und eindrucksvoll und dabei leicht und locker, fast schon beiläufig dahingeschrieben. Ich weiß gar nicht, wie ich es anders beschreiben soll. Eine Art Sprech/Schreibstil, mal kurze Sätze: Subjekt, Prädikat, Objekt. Mal fehlt das Subjekt, mal das Prädikat. Unvollständig – ja, aber ok. Vollständig wäre der Satz nur halb so gut, würde an Tempo verlieren. Dann wieder Schachtelsätze, ineinander, zueinander, hintereinander gestellt. Zwischendrin mal wörtliche Rede, natürlich ohne Anführung, ohne sagte, meinte, dachte.

Das wird nicht jedem gefallen, aber ich bin schwer begeistert und ziehe meinen Hut vor dieser sprachlichen Meisterleistung. Sprache und Handlung korrespondieren perfekt und so kommt es, dass man wie im Rausch durch die Seiten fliegt und zum Schluss am liebsten noch einmal von vorne beginnen möchte. Ein grandioses Leseerlebnis. Das beste Debüt des Jahres.

Und Ingrid? Ingrid trägt ihr Päckchen weiter. Die Mutter stirbt, Ingrids Dämonen sterben nicht – alles ist immer noch jetzt.

Titelfoto: Gabriele Luger
_______________
Klicktip:
Auch Sophie vom Blog Literaturen ist von diesem Debüt begeistert.

4 Kommentare

  1. Klingt fantastisch. Demnächst kommt Julia Wolf nach Frankfurt – und sie liest wunderbar, habe ich mir sagen lassen. Hast du sie in Leipzig gesehen? Und: Gibt es eine Passage, die du besonders eindrücklich fandest, ein Beispiel für diese Sprache, die dich so umgehauen hat?,

    fragt
    caterina

    Like

    1. Hallo Caterina,
      das Buch wird mit Sicherheit auch Dir gefallen. Das Tolle daran ist, dass Du jede Seite aufschlagen und reinlesen kannst und sofort diese Kraft und das Tempo in der Sprache spürst. Da sind nicht wie so oft nur ein paar Passagen, die besonders gelungen artikuliert sind und die man sich dann anstreicht. Julia Wolf hält das Niveau tatsächlich von der ersten bis zur letzten Seite.

      Für Dich aber trotzdem mal eine Leseprobe. Habe wahllos irgendeine Seite (57) aufgeschlagen:

      „Dann beginnt es zu regnen. Sie spielen Tennis, im leeren Schwimmbecken, gegen die Wand. Aber auch das macht nur kurz Laune, auch das wird bald fad. Im Fernsehen nur Schrott, tagelang regnet es, Moritz mit Buch auf dem Sofa. Toxikologie, lautet die Antwort auf Ingrids Frage, was er da macht. Moritz allein auf dem Sofa, Moritz in Gedanken woanders. Er kommt nicht mehr jede Nacht zu Ingrid ins Bett.“

      Ich habe mit der Autorin noch ein kurzes Interview gemacht, das in den nächsten Tagen hier erscheint.

      Liebe Grüße
      Tobias

      Gefällt 1 Person

Hinterlasse einen Kommentar