Rolf Lappert – Über den Winter

 

Man sollte im richtigen Alter sein, um diesen Roman angemessen wertzuschätzen. Oder müsste sich stattdessen ab und zu schon mal gefragt haben, ob das alles so richtig ist. Das, was man tagtäglich so veranstaltet, ohne nachzudenken. Einfach so, weil es sich so ergeben hat. Wenn man auf einmal jeden Tag immer den gleichen Termin im Kalender hat. Alltagswahnsinn und tausend Dinge, die alle nichts mit dir zu tun haben. Das ganze Leben nur Ansprüche, Erwartungen, Perspektiven und Konsequenzen.

Das alles sollte man schon mal irgendwann gedacht haben, wenn man diesen Roman in die Hände nimmt. Denn darum geht es hier. Das Rad einfach mal zurückdrehen, statt immer mehr, auch mal weniger, das Richtige zu wollen. Downshifting nennt man das wohl. Wenn man jung ist, in der Aufbauphase, die Familien- und Karriereplanung gerade begonnen hat, ist man weit von all dem entfernt. Dann gibt es nur eine Richtung: vorwärts, machen, klar kommen, sich was aufbauen. Wenn ich in dieser Lebensphase Rolf Lapperts „Über den Winter“ gelesen hätte, ich hätte diesen Roman mit Sicherheit nach einem Drittel in die Ecke gepfeffert. Die Lethargie des Protagonisten, seine ganze negative Lebenseinstellung, die vielen kleinen Verweigerungen hätten mich wahnsinnig gemacht. In dieser Phase kann man nur schwer Verständnis für einen Protagonisten aufbringen, der ohne Not seinen Lebenskarren einfach an die Wand fährt.

Aber ich bin mittlerweile in einer anderen Lebensphase, ungefähr im gleichen Alter wie Lapperts Antiheld Lennard Salm und muss zugeben, dass ich mich immer wieder bei den gleichen destruktiven Gedanken ertappe. Einfach alles hinschmeißen, noch einmal etwas ganz anderes machen. Einfach machen, bevor es zu spät ist. Nur was? Und genau daran scheitert es bei den meisten Menschen. Es gibt keinen Plan B, der all die Verpflichtungen tragen kann: den Hauskredit, die Kinder, das Auto. Und so verbleibt es dann. Man hat den Ausstieg in Gedanken einmal durchgespielt, hat festgestellt, dass es nicht geht und lässt alles wie es ist. Und vielleicht ist das auch gut so.

Nicht so bei Lennard Salm. Er macht Nägel mit Köpfen. Irgendwann beschließt er, dass er kein erfolgreicher Künstler mehr sein will – mit Manager, Mäzen und einem Atelier in New York. Stattdessen zieht er zurück in sein altes Kinderzimmer nach Hamburg in die Wohnung seines greisen Vaters. Und natürlich ist das nicht die Lösung. Das ist ein Rückschritt, der keinen Fortschritt bringt. Das löst keine Probleme, sondern bringt neue Probleme, existenzielle Probleme, alte verdrängte und unverarbeitete Probleme wieder hoch. Nichts wird besser, alles wird immer düsterer, trauriger, sinnloser. Man spürt Lennards Resignation und Kraftlosigkeit förmlich beim Lesen. Und über allem diese permanente Kälte des Hamburger Winters, die sich wie ein eisiger Schleier über das ganze Setting legt.

Ich habe schon viele traurige Romane gelesen. Als Murakami-Fan bleibt das nicht aus. Aber das ist mit Abstand eines der traurigsten Bücher überhaupt. Ab der Hälfte hatte ich einen Kloß im Hals und ab und zu auch mal Tränen in den Augen. Dieser Roman hat mich wirklich sehr aufgewühlt. Wenn man sich einlässt, an Lennard Salm nicht rumkritisiert, sondern ihn einfach machen lässt, dann fällt man als Leser tief. Ganz tief in diese Traurigkeit, diese Aussichtlosigkeit, die Verzweiflung, die Resignation. Mit offenem Mund und tief bewegt habe ich die letzten Seiten gelesen und wieder einmal erleben dürfen, was gute Literatur bewirken kann. Sie holt dich ab und nimmt Dich mit auf eine Reise. Führt dich an Orte am Rande deiner Vorstellungskraft und noch darüber hinaus.

Ich will gar nicht zu viel verraten. Aber dieser Shortlist-Titel ist in meinen Augen ein würdiger Preisträger für den Deutschen Buchpreis. Rolf Lappert hat mir eines der intensivsten Leseerlebnisse beschert, die ich in letzter Zeit hatte. Sprachlich auf einem hohen Niveau, authentisch bis ins Mark und obendrein mit einem aktuellen Flüchtlingsbezug (leicht angedeutet und nicht mit dem dicken Zaunpfahl wie bei Jenny Erpenbeck) ist dieses Meisterwerk in meinen Augen der Top-Favorit für den 12. Oktober. Ein grandios-trauriger Ü40-Roman.

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Verlag: Hanser

383 Seiten, 22,90 €

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20 Kommentare

  1. Dachte, diese Kategorien werden nur für Parties verwendet. Ü40-Roman? Und es erst erleben und denken, um die Literatur wertschätzen zu können. Traue mir durchaus eine angemessene Lektüre des Buchs zu, ohne entsprechende Erfahrungen vorweisen zu können, zumindest kann ich mir da nicht sicher sein und sollte ich also, fände ich es wider Erwarten nicht gut, denken, es läge an mir, weil ich das ja alles nicht verstehen kann, da nie erlebt.

    Dennoch, ich merke mir das vor, als Probe auf Exempel, die Empfehlung ist doch eindringlich genug.

    Freundlichst
    Ihr Herr Hund

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    1. Werter Herr Hund,

      natürlich muss man nicht alles erlebt und gedacht haben, um die entsprechende Literatur zu verstehen. Mir geht es auch weniger um das Verstehen, als um das Verständnis. Ich könnte mir vorstellen, dass vielen Lesern das Verständnis für die Lethargie des Protagonisten fehlt. Weil sie einfach nicht verstehen können, wie man ohne Not all das über Bord wirft, wonach andere verzweifelt streben.

      Ich hoffe, Sie verstehen, was ich ich meine.

      Verständnisvolle Grüße
      Tobias

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      1. Ich verstehe, was Sie meinen. Und billigerweise habe ich auch Verständnis für das, was Sie meinen und dass Ihnen das Buch so gefallen hat. Möglicherweise hatte ich doch ganz ähnliche Erfahrungen, will ich mein Leben ja nicht als ganz und gar für einen Sonderfall erklären, eines aber ist sicher, ich habe schon Erfahrungen mit dem Autor gemacht, die waren allerdings nicht die besten, und eben dies lässt mich scheuen. Die Leseprobe aus der Buchpreisbroschüre, sowie unbedingt Ihre einnehmende Empfehlung, bringen mich fast dazu, ihm eine weitere Chance zu geben…..

        Freundlichst
        Ihr Herr Hund

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  2. Ich weiß nicht, lieber Tobias, ob das Buch das richtige ist für mich. Bin aus dem Midlife-Crisis-Alter (Stichwort Ü40) leider schon hinaus, habe gerade mit ganz viel Lust und Spaß an der Sache einen weiteren Karrriereschritt gemacht und muss – da brauche ich gar nicht lange grübeln – sowieso bis zur Rente mit Ü67 weiter fleißig im Hamsterrad laufen. Und zurück in das Kinderzimmer bei den Eltern? Um Gottes Willen, vorher würde ich mir ein Bein abhacken, wirklich.
    Aber mal mit Ernst: Ich habe Lapperts Roman nach Durchsicht des Klappentextes zur Seite gelegt: Nicht mein Thema, dachte ich (Stichwort Kinderzimmer!). Nun aber, nach Deiner Besprechung, bin ich ja doch ganz neugierig, was die Geschichte mit mir machen würde. Könnte sie mich auch so packen mit ihrer Traurigkeit oder wäre es mir dann doch zu viel? Würde ich vielleicht doch noch mal ins Grübeln kommen, ob mein Hamsterrad so das Richtige und Wahre ist oder wünsche ich mir doch ein ganz anderes Leben? Und Deine Anmerkung zu den letzten Seiten macht natürlich auch sehr neugierig. Hm, mal schauen, ob mir Lapperts Roman nicht doch noch auf das graue Sofa springt.
    Viele liebe Grüße, Claudia

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    1. Hallo Claudia,

      ja, ob das Buch etwas für Dich ist, kann ich Dir auch nicht sagen. Natürlich ist meine Aussage, dass das Buch nichts für Optimisten und Hoffnungsträger ist, wieder einmal sehr überspitzt und polemisch. Wir hatten das Thema ja in Köln: manche Menschen können sich bei der Lektüre nicht von ihrer subjektiven Weltsicht lösen, brauchen die Identifikation und das Verständnis. Und dann wiederum gibt es Leser, die das klar voneinander trennen. Und dann gibt es auch noch Bücher, wo das gut funktioniert und wo nicht.

      Also probier es einfach mal. Gute Literatur ist es allemal und steht es nicht zu Unrecht auf der Shortlist.

      Liebe Grüße Tobias

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      1. Ja, Tobias kann schon ziemlich verlockend über ein Buch schreiben. Das bekommt der Leseliste nicht immer so richtig… Ich bin ja mal gespannt, ob Du beim Lesen ins Kinderzimmer zurück ziehst…
        Viele Grüße, Claudia

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  3. Danke für diese eindringliche Empfehlung! Ich hatte Lappert nach den vielen „Nicht-Empfehlungen“, die ich las, nicht für so interessant gehalten. Aber so wie du es schilderst, scheint es für mich durchaus eine passende Lektüre zu sein…

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  4. Glaubst Du denn auch, dass er gewinnen wird? 😉 ist ja nochmal was anderes…. Ich fand den Roman auch gut, wenn mir auch ein anderes Buch von Lappert noch besser gefiel, was evtl. auch an der „Lebenslage“, in der ich es gelesen habe, lag. (Es war „Auf den Inseln des letzten Lichts“)

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  5. Mir war das leider gar nichts. Ich fand „Über den Winter“ größtenteils langweilig und vor allem sprachlich überhaupt nicht bestechend ( http://www.zeilenspruenge.de/laesst-mich-kalt-rolf-lapperts-ueber-den-winter ). Aber vielleicht liegts daran, dass ich nicht im richtigen Alter bin. Und Pferde finde ich auch nicht so interessant. 😉 Ich bin sehr gespannt, ob Lappert mit dem Roman den Buchpreis bekommt, denke es aber ehrlich gesagt nicht. Allgemein tue ich mich aber schwer mit der Shortlist. Ich war von einigen Longlist-Titeln weitaus begeisterter!

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  6. Ein tolles Buch, bis jetzt mein Favorit, obwohl ich noch Helle und Witzel lesen muß, mit einer Traurigkeit, wie sie einem wahrscheinlich als Arbeitsloser oder Mindestrentner oder auch als Radiohörer sehr leicht befallen kann, aber so aufgepäppelt, daß es als literisch gelten kann und auch nicht so unverständlich, wie beispielsweise der Ulrich Peltzer, obwohl es ja gar nicht um etwas so Unähnliches dabei geht.

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