5 Gründe, einen Roman vor dem Ende abzubrechen

 

1. Höre auf Dein Vorurteil – fang gar nicht erst an.

Wenn bei uns in der Familie eines der Kinder irgendetwas nicht essen wollte – Brokkoli, Rosenkohl oder Leber – musste es zumindest einmal probiert haben. Dahinter stand die Hoffnung, dass sich das geschmackliche Vorurteil nach den ersten Bissen in Wohlgefallen auflösen und Brokkoli fortan zur neuen Leibspeise avancieren würde. Aber das passierte natürlich nie. Stattdessen wurde widerwillig eine Gabelspitze in den Mund genommen, minutenlangen darauf rumgekaut und je länger gekaut wurde, desto mehr wurde es im Mund. Bis schließlich der Würgreflex nicht mehr unterdrückt werden konnte und alles wieder auf dem Teller landete.

So geht es mir auch, wenn ich Bücher lese, die mich eigentlich gar nicht interessieren. Die ich lese, weil sie mir jemand wärmstens ans Herz gelegt hat, weil ich mich habe beschwatzen lassen, weil ich denke, das müsstest du eigentlich auch mal gelesen haben. Dann geht es mir wie Maxim Biller bei Ilja Trojanow, dann weiß ich schon im Vorfeld, dass mir das Buch nicht gefallen wird. Und je mehr ich lese, desto mehr erinnert mich das an eine Gabel voll Brokkoli im Mund, die beim Kauen immer mehr wird und so eklig ist, dass man sie nicht runterschlucken, sondern nur noch erbrechen kann.

2. Hat das etwas mit Dir zu tun?

Auf jeder zweiten Party begegnet man ihnen. Meistens in der Küche, Leute, die einem beim kalten Buffet ein Ohr abkauen, über ihre Kinder, Krankheiten, Probleme in der Schule, den letzten Urlaub, veganes Essen, den Hund, die Oma und tausend andere spannende Dinge. Es gibt Menschen, da bin ich ganz Ohr, frage nach und unterhalte mich prächtig. Und bei anderen denke ich nur: wo ist der Senf?

Es gibt so viele Faktoren, weshalb mich auch in Büchern manche Botschaften nicht erreichen. Ich habe lange geforscht, woran das liegen könnte. Und so banal das klingt, die Antwort habe ich in einem von Dale Carnegies Tschaka-Büchern gefunden, das mir meine Mutter mal geschenkt hat. Da stand nicht viel drin, eigentlich nur dieser eine Satz: Jeder Mensch interessiert sich in erster Linie nur für sich selbst. Das klingt banal, aber es stimmt. Denn ich bin ein klassischer Identifikationsleser. Ob Gespräche am Salatbüffet oder dicke Romane – wenn es der Erzähler nicht schafft , dass ich mich irgendwo wiederfinde, sei es nur in einem Satz, einem Gedanken, einer Gebärde, dann erreicht er mich nicht, dann hat seine Geschichte nichts mit mir zu tun, dann höre ich nicht mehr zu und höre auf zu lesen.

3. Lass Dich nicht für doof verkaufen

Literatur darf viel. Sie darf schockieren, schwülstig und emotional sein, kalt und berechnend, hochtrabend und elitär, anstrengend und langatmig. Sie darf mich an meine Grenzen führen und mich sogar langweilen – nicht zu lang, nur ein paar Seiten – aber auch das darf Literatur, wenn sie gut ist. Doch eines darf sie nicht: mich für blöd verkaufen.

Wenn ich das Gefühl habe, als Wichsvorlage für einen sich inszenierenden, profilierungssüchtigen Autor missbraucht zu werden, bin ich raus. Wenn Unlesbarkeit als Stilelement eingesetzt wird, wenn für den Autor Schreiben eine nicht enden wollende Art von Assoziationstherapie ist. Wenn er es darauf anlegt, dass ich nicht folgen kann, dass ich kämpfe und mich mit ihm messe. Wenn er falsche Fährten legt, Handlungsstränge verknotet, einen elaborierten Code verwendet, dem ich nicht folgen kann, folgen will. Wenn er mir unbedingt zeigen will, dass er intelligenter ist als ich. Meinetwegen, sage ich mir, dann bist Du halt schlauer, wenn Dich das glücklich macht. Bitte sehr, du Arschloch! Dann lies doch deinen Scheiß alleine.

4. Schema F landet in Ablage P

In vielen kreativen Branchen gilt die Devise: warum das Rad neu erfinden, wo es doch so viele schöne Best-Practice-Beispiele gibt? Copy & Paste, ein paar Veränderungen hier und da und schon ist man mit etwas Eigenem am Markt.

Das gibt es natürlich auch im Buchmarkt. Viele Autoren schauen genau, was sich gut verkauft und schreiben einen neuen Roman nach einem bekannten Schema. Ein Liebesroman ist ein Liebesroman, ist ein Liebesroman. Was gibt es daran nicht zu verstehen? „Er und Sie“ oder neuerdings auch „Er und Er“, bzw. „Sie und Sie“ oder die ganz wilde Variante: „Sie mit Ihm und Ihm“ – oder Ihr. Anderes Setting, andere Haarfarben, andere Biografien – und schon ist man unique. Pustekuchen – der aufmerksame Leser merkt das natürlich sofort und rollt schon bei den ersten bekannten Typologien mit den Augen, klappt das Buch zu und legt es in die Ablage P.

5. Falsches Buch zur falschen Zeit

Aber eigentlich braucht man überhaupt gar keinen Grund, um ein Buch einfach wieder wegzulegen. Wenn es einen nicht packt, bewegt, begeistert, in irgendeiner Form am Lesen hält. Wenn es einen langweilt, die Seiten sich wie Blei umblättern, es sich zäh und tranig dahinzieht, wenn einem die Augen bei jedem zweiten Satz zufallen – dann ist es vollkommen ok, wenn man es einfach wieder weglegt. Falsches Buch zur falschen Zeit oder einfach nur schlecht – egal. Man darf sich dann ein anderes Buch greifen und sein Leseglück neu versuchen. Es gibt ja so viele schöne Bücher. Was man bei der Lektüre versäumt hat, kann man dann in den einschlägigen Blogs nachlesen. Denn irgendeiner von uns hat sich garantiert bis zum Ende durchgekaut, vollquatschen und missbrauchen lassen. Garantiert.

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Titelfoto: Gabriele Luger

18 Kommentare

  1. Ich finde es immer niedlich bei den Diskussionen um Literaturkritik resp. deren Niedergang (die es Gott sei Dank jetzt mal ein paar Wochen nicht gab), dass manche die reinen, hehren Kriterien verteidigen, an denen man Literatur in gut und schlecht zu teilen habe und vor allem durch Blogger etc. den Niedergang jeder Kritik befürchten. Natürlich gibt es diese Maßstäbe – aber letzten Endes: Ob einem ein Buch dann gefällt oder nicht – darüber entscheidet immer der persönliche Geschmack, die momentane Lebens- und Denksituation (Identifikationsleser). Die einen geben das zu, die anderen eben nicht. Und wenn ich mir die Feuilletonbeilagen der Medien durchlese, dann erkenne ich die individuellen Neigungen einiger Kritiker durchaus.

    Mehr Mut zur Lücke 🙂

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      1. Ach Bullshit, Herr Küchenpsychologe. Ich finde es unnötig, nervig und langweilig. Meistens träumen die Leute ja dann irgendwas, das keinen Sinn ergibt, wirr ist, mit gaaanz schweren Symbolen behaftet, alles so bedeutungsschwanger. Da denk ich mir dann: Lieber Autor, mach dir doch bitte die Arbeit und erzähl’s mir ordentlich.

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  2. „Denn ich bin ein klassischer Identifikationsleser. Ob Gespräche am Salatbüffet oder dicke Romane – wenn es der Erzähler nicht schafft , dass ich mich irgendwo wiederfinde, sei es nur in einem Satz, einem Gedanken, einer Gebärde, dann erreicht er mich nicht, dann hat seine Geschichte nichts mit mir zu tun, dann höre ich nicht mehr zu und höre auf zu lesen.“

    Mit diesem Satz sprichst Du mir ganz wundervoll aus der Seele, hast es nur viel schöner formulieren können. Hab bislang nicht wirklich drüber nachgedacht, aber ich glaube das trifft in der Tat 100% auf mich zu. Danke – ich liebe es, wenn es eine richtige Bezeichnung für etwas gibt. Identifikationsleser – yes Sir – that’s me 😉

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  3. Also ich bin eine, die Bücher fast immer zu Ende liest, aus Respekt vielleicht und wahrscheinlich auch, weil ich das auch bei meinen Büchern so will.
    Was die Küchenpsychologie betrifft, die ich ja professsionell betreibe, könnte man auch sagen, ich will wissen, was die anderen besser, als ich können und ich muß auch sagen, die meisten Bücher gefallen mir, beziehungsweise habe ich keine Schwierigkeiten sie zu Ende zu lesen.
    Einen Krimi habe ich, glaube ich, mal weggelegt, weil ich ihn nicht mehr ausgehalten habe und Kaff Mare Krisiumhttps://literaturgefluester.wordpress.com/2011/09/16/kaff-auch-mare-crisium/ habe ich dann durchgeblättert, als ich ihm nicht mehr verstanden habe, aber sonst, das meiste interessiert mich und ich verstehe es auch.
    Was sagt das über meine Psyche, daß ich versuche allem wertschätzend und aktzeptierend gegenüberzustehen?
    Ich verfalle aber auch nur selten in einen Begeisterungstaumel und Bücher abbrechen oder Sätze, wie „Da ist mir meine Lebenszeit zu schade!“, sind keine, die ich mag, da geht es mir, wie bei den Abteibungen, die ich auch für unnötig halte, allerdings lehne ich auch selten Bücher ab, wenn sie mir jemand anbietet und nach etwa tausend Rezensionen oder Buchbesprechungen, weiß ich auch, was ich dann darüber schreibe ohne mit dem Zeigefinger a la Reich-Ranicki zu wackeln.
    Beim Peltzer den ich nicht als Rezensionsexemplar bekommen habe, habe ich mir überlegt, ob ich ihn lesen soll, wenn ihn alle als so unlesbar beschreiben. Jetzt liegt er in meinem Badezimmer und ich bin gespannt, wie es mir beim Lesen gehen wird.

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  4. Identifikation spielt bei meiner Leküre kaum eine Rolle. Mich müssen die Geschichte und die Sprache überzeugen. Es muss einfach rund sein. Ich finde es vielmehr eine Bereicherung, wenn die Helden ganz andere Erfahrungen gemacht haben als ich und ganz anders gestrickt sind. Ich muss kein Teil der Geschichte werden, sondern eher ein stiller Beobachter, der sich an einem intelligenten Aufbau der Story und interessanten Gedanken erfreut. Wenn mir ein Buch nicht gefällt, lege ich es weg. Andere warten, gelesen zu werden. Manche schaffen es allerdings, dass ich sie noch einmal anfange und zu Ende lese.

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  5. Ich bin kurz davor, eins abzubrechen, verehrter Buchpreisblogger-Kollege, verbunden mit großer Wurfgeste.
    Vielleicht sollte ich mich bei meiner Argumentation auf Deine 5 durchaus relevanten Punkte beziehen. lg_jochen

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  6. Ich möchte nur eins zu bedenken geben: selten, aber ab und zu brauchst ein wenig durchhaltewillen und dann packt einen das buch doch noch. mir erging es so bei „das buch der kinder“ von A.S.Byatt. hätte ich das buch nach den ersten 400 seiten weggelegt – wie öfters überlegt – hätte ich die letzten 400 verpasst – und die waren großartig!

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  7. Lieber Tobias,
    jetzt will ich es aber wissen: Hat Dich gerade ein Buch so „inspiriert“, dass Du Dir mit Deinem 5-Punkte-Programm den Ärger von der Seele schreiben musstest? – Oder sind Deine 5 Punkte mehr so ganz grundsätzlich zu verstehen? – Mir fällt zu diesem Thema ja ein französischer Autor (Bayard? – komme gerade nicht an meinem Buchregal vorbei) ein, der ein Plädoyer dafür geschrieben hat, dass man – auch mit Romanen – alles tun und lassen kann, was das Leserherz begehrt: kreuz- und quer-lesen, wenn man möchte auch das Ende vor dem Anfang, aufhören und weglegen, wann immer einem danach ist (man könne ja bei Partys trotzdem gescheit über das Buch reden, meint der Autor – und ich füge hinzu: selbst in meinem Literaturkreis fällt das manchmal nicht auf 😉 ), mehrmals anfangen, weglegen, später lesen usw. Also: Für die Freiheit des Lesens , wir sind ja hier nicht in der Schule…
    Neugierige Grüße, Claudia

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    1. Hallo Claudia,
      nach dreieinhalb Tagen Buchmesse sitze ich heute zum ersten Mal wieder am Rechner und da fällt mir Dein Kommentar ein. Du weisst ja, wo mein Ärger ganz konkret herruht. Und ja, letztlich würde ich das auch grundsätzlich immer wieder so sehen. Aber Du hast recht: ein Buch muss nicht immer der Sofortzünder sein. Es kann auch mal ein wenig liegen, pausieren, als Nachttischlektüre jeden Abend ein zwei Seiten – warum nicht?

      Wenn da nicht so viele gute Bücher wären, könnte es sogar passieren, dass ich den Peltzer noch einmal in die Hand nehme. Um mein Urteil zu überprüfen, um mich seinem Verwirrspiel zu stellen. Aber das andere Leben liegt jetzt in Hamburg auf einem anderen SUB.

      Liebe Grüße
      Tobias

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      1. Ich ahnte es mit Peltzer, aber ich wusste es nicht genau und befürchtete schon, Dich hätte noch ein weiterer schwer verdaulicher Titel ereilt. Bestimmt hast Du in Frankfurt (ich beneide Euch ja ein wenig, aber in unserem Urlaub ist es auch sehr schön und erholsam gewesen, zu ein paar Bergtouren haben wir es geschafft, bevor das Wetter mies wurde und lesen in der Wohnwagensofaecke angesagt war) viele interessante Inspirationen zu spannenderen Büchern bekommen. Und auf die Besprechungen bin ich nun ja auch gespannt. Der Autor, der mir einfiel, ist übrigens Daniel Pennac mit dem Titel „Wie ein Roman“ (1995, KiWi), der u.a. folgende Rechte des Lesers einfordert:
        1. Das Recht nicht zu lesen.
        2. Das Recht, Seiten zu überspringen.
        3. Das Recht, ein Buch nicht zu Ende zu lesen.
        Siehst Du!
        Viele Grüße, Claudia

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  8. Hallo Tobias,

    du nennst das Kind beim Namen. Warum muss das literarische Gemüse zwischen die Zähne, wenn man es einfach nicht mag!? Früher habe ich mich oft dazu durchgerungen, eine Bücherempfehlung zu lesen, die ganz und gar nicht meinem Geschmack entsprach oder ein Buch bis zum Ende zu lesen, obwohl ich ihm bereits nach wenigen Seiten nichts abgewinnen konnte. Ich frag mich wozu.

    Sicherlich hat das ähnliche Gründe wie die Tatsache, dass ich als Kind meinen Teller stets leerzuessen hatte. Pah, dabei hat mir der Fraas gar nicht geschmeckt!! Mittlerweile bin ich radikaler geworden. Was nicht passt, wird auch nicht passend gemacht. Selbst Thomas Hettches „Pfaueninsel“ habe ich mich schlussendlich verwehrt, obwohl es als Geschenk mit schillderndem Cover und Signatur auf der ersten Seite so reizvoll daher kam. Keine Ahnung, was andere dieser Geschichte abgewinnen konnten. Für mich war das einfach geschmacklos und völlig realitätsfern.

    Glücklicher machen mich definitv die Bücher, in denen ich mich selbst oder meine Interessen wiederfinde. Ich bin dann wohl auch der Identifikationsleser. Besser so.

    Liebe Stöbergrüße,

    Steffi

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  9. “ Falsches Buch zur falschen Zeit“ bekommt bei mir im Zweifel noch eine Chance und das ist oft gut – ich habe z.Bsp. 3 Anläufe für „Extrem laut und unglaublich nah“ benötigt und wenn es mir nicht meine Schwester geschenkt hätte, welche meinen Geschmack gut kennt, würde es wahrscheinlich noch auf dem SuB schimmeln und ich wüßte nicht, was mir entgangen ist – inzwischen kann ich es fast auswendug 😀

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