Allein im Auto auf der A3, von Heppenheim nach Hause. Es ist dunkel, kein Stau, ich fahre so dahin, denke nach. Ein Jahr mache ich das jetzt also schon. Oder besser gesagt: ein Jahr erst. Mir scheint es so viel länger, so viel besser, so ganz anders als all die Jahre zuvor. Da ist etwas ganz schnell groß geworden, hat sich Raum genommen, Zeit gestohlen, Abläufe verändert. Happy Birthday Buchrevier.
So viele Jahre habe ich schon passieren sehen. An die meisten kann ich mich kaum noch erinnern. Aber für alle gilt, es war nie wirklich leicht. Richtig unbeschwert und beschwingt bin ich noch nie durchs Leben gegangen. Oft stand ich mir selbst im Weg. Hier ein paar Talente, da zahlreiche Defizite. Was die eine Hand aufgebaut hat, hat die andere wieder eingerissen. Irgendwann habe ich gelernt, dass Ungleichgewicht keine schlechte Strategie ist. Man muss nur mehr aufbauen als einreißen und schon geht es voran. Das habe ich auch im letzten Jahr so gemacht. Und siehe da, es war auf einmal ganz leicht.
Ich weiß nicht, ob man es Talent nennen kann. Ich weiß nur, dass ich nichts so gerne mache wie schreiben. Die Wörter sind da irgendwo in mir. Ich weiß ganz genau, ich kann das ausdrücken, kann das rund machen, meine Leseerlebnisse wiedergeben. Wenn ich mich bemühe, dann gelingt es mir, Gefühle in Wörter zu transferieren, so dass andere teilhaben können. Nicht immer und jederzeit, aber prinzipiell schon. Ich sitze zwanzig Minuten vor einem leeren Bildschirm und auf einmal sprudelt es. Und wenn ich es dann durchlese und meine, dass es gut ist, die richtigen Wörter, die richtigen Sätze dort stehen, dann bin ich glücklich.
Gerade jetzt, zu diesem Zeitpunkt ist die Welt kein guter Ort. Mir geht es zwar ganz ok, aber so vielen anderen nicht. Hass, Verblendung, Ängste und Vorurteile nehmen uns die Luft zu atmen, lassen alles in einem anderen Licht erscheinen. Ich finde es bewundernswert, wenn Menschen sich dem stellen und versuchen, das Rad zu drehen. Mir fehlt dazu die Kraft, die Überzeugung und auch die Hoffnung. Ich tauche weg, ich entschwinde in andere Welten, stecke meinen Kopf zwischen zwei Buchdeckel, beschäftige mich mit Problemen, die irgendwann auf Seite 450 ein Ende finden. Nur so kann ich das alles ertragen. Das ist keine Lösung, aber ein großer Trost. Und da sind sie wieder – die Defizite.
Dass ich das zugeben kann, mir und Außenstehenden kein X für ein U vormache, ist einer der wenigen Vorteile des Älterwerdens. Mit fünfzig hat man seinen Frieden mit sich und seinen Defiziten gemacht. Ich bin gelassener geworden, muss niemandem mehr etwas beweisen. Wem nicht gefällt, was ich so schreibe, der braucht das ja nicht zu lesen. Wenn alles kann und nichts muss, passiert bekanntlich mehr als geplant. Mit Buchrevier habe ich in den vergangenen zwölf Monaten weit mehr erreicht, als ich mir jemals vorgenommen habe. Ob Bloggerpate bei der Leipziger Buchmesse, Rezensent beim Literaturradio oder Buchpreisblogger – alles flog mir irgendwie so zu und hat dafür gesorgt, dass Buchrevier von Tag zu Tag bekannter wurde.
Nicht verschweigen möchte ich eine Sache, die mir auch mehr oder weniger zugeflogen ist. Und zwar aus heiterem Himmel wie Vogelscheiße mitten ins Gesicht. Es war kein Aprilscherz, als am 1. April ein ganz bestimmter Artikel auf Buchrevier auf einmal über zweitausendmal angeklickt wurde. Es hat etwas gedauert, bis ich realisierte, dass ich mich mitten in einem veritablen Shitstorm befand. Wenn ein gendertechnisch nicht ganz so korrekter Text von den richtigen Leuten verlinkt und entsprechend anmoderiert wird, gehen die Zugriffszahlen durch die Decke und man ist auch auf einen Schlag bekannt, aber so wie man es nie sein wollte. Eine einschneidende Erfahrung, die ich aber rückblickend nicht missen möchte. Denn ich habe dadurch sehr viel über die Macht des Internets am eigenen Leib erfahren. Wie rasend schnell sich Dinge verbreiten, wie einem Worte im Munde herumgedreht werden, wie hemmungslos sich manche Menschen auf ihr Opfer stürzen, wie wenig Kinderstube selbst augenscheinlich gebildete Menschen haben, wie einen das alles, obwohl es ja nur virtuell ist, doch nachhaltig verletzten kann. Ich habe gelernt, dass man zwar alles denken kann, aber nicht alles schreiben sollte, mit bestimmten Themen lieber nicht polarisiert und manche Diskussionen auch mit den besten Argumenten nicht gewinnen kann. Letztlich habe ich das Erlebnis unter „Erfahrungen“ verbucht. Aber vergessen habe ich es nicht.
An all das denke ich, während ich im Auto auf der A3 von Heppenheim nach Hause fahre. Zwölf unheimlich intensive Monate, in denen so unglaublich viel passiert ist. Und das, obwohl ich nicht viel mehr gemacht habe, als im Sessel zu sitzen und zu lesen. Happy Birthday Buchrevier.
Titelfoto: Gabriele Luger
Ich kenne das buchrevier ja erst seit ein paar Wochen, hatte aber immer den Eindruck, dass es ein in Jahren gereiftes Projekt ist. Es überrascht mich sehr zu lesen, dass es doch erst ein Jahr ist. Umso mehr: Herzlichen Glückwunsch!
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Happy Birthday Buchrevier! Ein Jahr erst? Ich hatte das Gefühl, Du seist schon viel länger dabei. Ich wünsche Dir viele weitere schöne und lehrreiche Jahre und tolle Lektüren!
Ein schönes Wochenende und viele Grüße!
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Herzlichen Glückwunsch zum Bloggeburtstag! Und vielen Dank für viele interessante Beiträge, denen hoffentlich noch viele folgen werden. Herzliche Grüße
Norman
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Herzlichen Glückwunsch – dein Blog war der erste, den regelmäßig verfolgte. Und zwar zurecht, wie man an diesem schönen Artikel sieht!
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Glückwunsch! Und: Tolle Bilanz nach einem Jahr – Buchpate, Buchpreisblogger, Shitstorm geprüft (hmm…räusper meinerseits, ich hatte mich da in der viralen Empörung auch hinreißen lassen, was mir heute leid tut – die Form war nicht korrekt – auch wenn wir den Artikel inhaltlich noch diskutieren könnten).
Aber: Was kann jetzt noch kommen für das Buchrevier? Literaturblognobelpreis? Shortshorshortlistgewinner?
Egal was – ich wünsche Dir und Deinen Lesern: Hab weiterhin soviel Freude daran!
LG Birgit
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Hallo Birgit,
ich finde es sehr nett, dass Du zu der Geschichte im April noch ein paar klärende Sätze gesagt hast. Schwamm drüber! Und wenn wir uns irgendwann hoffentlich mal in echt treffen (vielleicht im Frühjahr in Leipzig?), dann können wir das Thema auch gerne noch einmal vernünftig und von Angesicht zu Angesicht diskutieren. Freue mich drauf.
LG Tobias
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Lieber Tobias,
das lag mir doch schon länger auf dem Herzen und ich freue mich über „das Schwamm drüber“. Vielleicht ergibt sich eine Gelegenheit, Leipzig oder Frankfurt, dann aber hoffentlich auch mit „leichteren“ Themen 🙂
LG Birgit
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Vielen Dank für die lieben Glückwünsche und die geäußerte Wertschätzung! Es tut gut, so viel Lob zu bekommen und ist zugleich Bestätigung und Ansporn. Ich freue mich über jeden, der Spaß und Freude an guter Literatur mit mir teilt.
Tobias
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Lieber Tobias, da kann einem fast schwindelig werden, was du alles in einem Jahr gemeistert hast. Wow! Und: Chapeau, Chapeau! Ich wünsche dir weiterhin anregende Lesestunden, tolle Blogprojekte und natürlich ganz viel Inspiration!
Sei lieb gegrüßt
Klappentexterin
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GLÜCKWUNSCH! auch von mir. freu mich auf die nächsten diskussionen.
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