Juli Zeh – Unterleuten

 

Ich weiß gar nicht, ob ich in jungen Jahren offener oder noch verstockter war als ich es jetzt bin. Man sagt ja älteren Männern eine nachlassende Aufgeschlossenheit nach. Zu Recht, denn genügend Erfahrungen wurden schließlich gemacht, das Weltbild steht. Wann, wenn nicht jetzt, ist die richtige Zeit für eine klare Meinung? „Hab ich doch gesagt“ und „Ist so““ sind zu Lebens-Leitsprüchen geworden. Und davon gibt es bei mir von Jahr zu Jahr immer mehr. Einer lautete bisher: „Juli Zeh geht gar nicht“.

Ob Vorratsdatenspeicherung, NSA-Affäre oder sonstige politische Debatten – Juli Zeh saß in gefühlt jeder zweiten TV-Talkrunde mit im Stuhlkreis. Wenn ich ihr engagiertes, sendungsbewusstes Gesicht sah, habe ich regelmäßig umgeschaltet. Niemals wäre ich auf die Idee gekommen, ein Buch von ihr zu lesen.

Doch dann habe ich auf einem Blog die erste hymnische Besprechung über ihren neuen Roman gelesen. Ein paar Tage später noch eine und dann noch eine. Und da kam ich dann schon ins Grübeln. Sollte ich vielleicht mal mein Urteil überdenken? Schließlich hatte ich Juli Zeh bisher noch gar nicht als Autorin, sondern nur als nervige TV-Debattiererin kennengelernt. Im Zweifel könnte ich ja meine Antipathie weiterführen und einen schönen Verriss schreiben. In einem Anflug von Altersmilde bestellte ich mir also das Buch, auch um mal zu schauen, was an Volker Weidermanns Zitat auf dem Backcover dran ist, der da sagt: „Im Grunde ist Juli Zeh genau jene Schriftstellerin, nach der sich alle sehnen.“

Eines kann ich schon mal vorwegnehmen. Weidermann hat Recht. Juli Zeh ist eine grandiose Schriftstellerin. Ihr Roman hat alles, was ein großer Gesellschaftsroman haben muss: Ein glaubwürdiges Setting, vielschichtige und interessante Charaktere, einen spannenden Plot mit aktuellen Bezügen und einen lebendigen, flüssigen und abwechslungsreichen Erzählstil. Das alles lässt einen Seite für Seite wie im Rausch umblättern. Ja, Unterleuten ist ein echter Pageturner. Kommt dick daher wie ein Tausendseiter, erscheint einem beim Lesen wie ein dünner Zweihundertseiter, hat aber tatsächlich 635 Seiten. Man bleibt dran, ist am Haken und hat in ein paar Tagen diesen Roman ausgelesen. Und seien wir doch mal ehrlich, das ist doch genau das Leseerlebnis, wonach wir alle immer wieder suchen. Dieses Eintauchen, dieses Sich-Verlieren in einer Geschichte, lesen bis einem spät in der Nacht die Augen zufallen, nur um morgens beim ersten Kaffee schon wieder weiterzulesen. Lesen in der Mittagspause, lesen als Beifahrer im Auto, in der Bahn und auf dem Klo. Ja, Volker Weidermann hat vollkommen recht – wenn ein Autor oder eine Autorin es schafft, diesen Leseflow zu erzeugen, dann ist das der perfekte Schriftsteller.

Was mich persönlich an diesem Roman so fasziniert hat, ist nicht der Plot, nicht das Setting in der Brandenburgischen Provinz, nein, das waren die Charaktere. Juli Zeh hat sich die Zeit genommen, jeden einzelnen der zahlreichen Romanfiguren detailliert und liebevoll einzuführen. Da ist der alte Kron, einer dieser Hundertprozentigen aus der alten DDR, einer, der das alte Regime, die alte Ordnung noch immer in sich trägt. Oder sein Gegenspieler Gombrowski, ein Bär von einem Mann, einer der alles aufgrund seiner schieren Leibesfülle dominiert, einer der sich einsetzt, der alles gibt, Gutes tut, aber was auch immer er anstellt, immer Feindbild bleibt. Oder Jule und Gerhard, ein stadtflüchtendes Akademiker-Paar, er alt, sie jung, mit Kind und Tragetuch. Dann wären da noch Frederic und Linda, er Computernerd und Spieleentwickler, sie Pferdeflüsterin und dominante Powerfrau, die rücksichtslos ihre Interessen durchsetzt. Alle diese Figuren, ihre Denkmuster, Zwänge und Handlungsroutinen lernen wir im Verlauf dieses Romans detailliert kennen. Juli Zeh baut auf, beschreibt, berichtet und erzählt ihre Geschichte auf eine angenehm zurückhaltende Weise. Ich hätte jetzt klare politische Standpunkte erwartet, das mir aus den TV-Talkshows bekannte Sendungsbewusstsein, aber nichts davon. Ich fühle mich als Leser nicht gedrängt, nicht in eine bestimmte Richtung manövriert. Zeh legt selbst die Figuren, die nicht ihrem gesellschaftspolitischen Weltbild entsprechen, mit großer Empathie und Sympathie an.

Ich muss sagen, das hätte ich jetzt nicht erwartet. Ich hatte Juli Zeh als Überzeugungstäterin eingestuft, eine, die jedem immer und überall ihre Weltsicht aufs Auge drückt. Eine politische Autorin, die wie Sartre oder Brecht in erster Linie deswegen schreibt, um Missstände anzuprangern, Dinge zu verändern, wachzurütteln. Vielleicht will sie das insgeheim auch, aber wenn, dann lässt sie es sich nicht anmerken. Trotzdem ist Unterleuten ein politischer Roman, hier kommt alles das zusammen, was in unserer Gesellschaft an Kräften agiert. Das Kapital, das Gestern, das Morgen, Ego-Shooter, Verkopfte, Bodenständige, Bestimmer und Befehlsempfänger und der ganze Rest von Menschen, die weder das Eine noch das Andere sind, sondern einfach nur versuchen klar zu kommen.

Und dann ist da noch die nette Posse rund um den Lebensberater und Buchautor Manfred Gortz, dessen Erfolgsformeln rund um Machtmenschen (Movern) und ihren Gegenspielern, den sogenannten Killjoys, im Buch immer wieder zitiert werden. Hier durchbricht Juli Zeh die Grenze zwischen Fiktion und Wirklichkeit, die Romanwelt tritt ins echte Leben ein. Das zitierte Buch „Dein Erfolg“ gibt es wirklich, man kann es kaufen, den Autor Manfred Gortz gibt es aber anscheinend nicht, er scheint eine ausgelagerte Romanfigur zu sein. Wenn es denn so ist, dann wäre das eine interessante literarische Spielart mit Aha-Effekt.

So lass ich mir Gesellschaftskritik gerne gefallen. Gekonnt und intelligent in Szene gesetzt. Natürlich werden auch hier Klischees bedient – der Computernerd, der Investor aus Rüsselsheim, der Möchtegernschriftssteller – aber Juli Zeh verschont uns mit ausgelutschten Phrasen und verknüpft jede Position in der Unterleutener Windkraft-Debatte mit einem persönlichen Schicksal. So durchlebt man mit jeder Figur alle Argumente und versteht auf einmal jeden einzelnen Standpunkt. Das ist grandios und prinzipiell genau das, was uns bei allen öffentlichen Debatten immer wieder fehlt: Verständnis für die Sichtweise des jeweils anders Denkenden. Eigentlich ganz einfach und trotzdem unglaublich schwer.

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Titelfoto: Gabriele Luger

Verlag: Luchterhand
635 Seiten, 24.99 €

6 Kommentare

  1. Offenbar ist es ein Glück, dass ich Juli Zeh zuerst als Autorin kennenlernte und sie erst später in den politischen Debatten wahrnahm. 🙂 Mit „Adler und Engel“ wurde ich nicht recht warm (sehr lange her), mit „Schilf“ hat sie mich gepackt. „Unterleuten“ werde ich noch lesen, Du machst Lust auf das Buch, schöne, lockende Besprechung, danke!

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  2. Zehs Roman ist wirklich klasse. Ich glaube, dass was du befürchtet hast, Tobias, also Gesellschaftskritik mit erhobenem Zeigefinger, findet sich eher im aktuellen Roman von Karen Duve: Macht, den ich deshalb lieber nicht lese …

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  3. Lieber Tobias,
    es deutete sich ja gestern schon an, dass wir – wieder einmal – keinen Konsens finden über unsere Lektüreeindrücke. Es ist verhext: was Du nervig findest – Juli Zehs Talkshowauftritte – (sind es überhaupt so viele; vielleicht fällt es mir nicht so auf, weil ich die Talkshows nur in ganz, ganz homöopathischen Dosen schaue), erscheit mir wichtig. Was Dich am Roman begeistert, finde ich zu konstruiert (Stichwort Cliffhanger, die mir schon in Krimis den letzten Nerv rauben) und die komplexen Charaktere sind mir zur Karikatur verzerrt. Allein das Thema ist richtig gut, findet sich ja nicht nur in diesem fiktiven Dorf, sondern in unserer gesamten öffentlichen Diskussion (und entsprechenden Handlungen): Partikularinteressen haben mehr Wert als jede Motivation, einmal als Gemeinschaft zu überlegen, wie wir denn gemeinsam in Zukunft leben wollen (da ist sie wieder, die Juli Zeh mit dem erhobenen Zeigefinger).
    Alle Figuren haben, meiner Meinung nach, ihre Nase viel zu tief in den Erfolg-Gortz gesteckt (der ja noch tollere Weisheiten verkündet, als jede noch so einfach gestrickte Religion), egal ob es das Pferdemädchen ist, der Kampfläufer-Retter Fleiß, seine vorgeblich emanzipierte Frau im Hormonrausch, Gombrowski oder der schon am äußersten Rande des Zynimus wandelnde Kron: Alle bringen sie nur ihre eigenen Interessen „ins Trockene“.
    Apropos Fleiß: Er ist ja der Vorsitzende des Vogelschutzbundes Unterleuten und verantwortet in diesem Zusammenhang auch eine Homepage, die Du hier: http://www.vogelschutzbund-unterleuten.de/index.php anschauen kannst. Und natürlich hat auch der Märkische Landmann eine eigene Homepage, leider seit 2013 nicht mehr aktualisiert. Genauso wie auch Herr Gortz, der sich in seinem Impressum ziemlich amüsiert – wir wollen hoffen, dass er sich so über uns kaputtlacht. Das alles kannst Du hier http://www.sueddeutsche.de/kultur/juli-zehs-unterleuten-hat-juli-zeh-fuer-ihren-aktuellen-roman-abgeschrieben-1.2949260-2 noch einmal nachlesen. Und das ist natürlich ein Super-Coup von Juli Zeh.
    Viele Grüße, Claudia

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  4. Ich verrate Dir einen meiner Lebens-Leitsprüche, den kannst Du Dir gerne ausleihen : „Was kümmert mich mein dummes Geschwätz von gestern !“ Wenn es sich dann noch um so ein positives Leseerlebnis handelt, noch besser.

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