David Vann – Aquarium

 

Ich weiß nicht, ob das sein Thema ist, denn so viel habe ich von diesem Autor noch nicht gelesen. Aquarium ist erst mein zweiter Vann-Roman. Aber „Dreck“ war bereits ein Familien-Beziehungsdrama und Aquarium ist es auch. Und das muss man ihm lassen, dieses Eltern-Kind-Ding kann er gut. Schon bei Dreck ging mir die tragisch-schaurige Geschichte von Mutter und Sohn unter die Haut, und auch in seinem neuen Roman lässt einen die Schilderung der auch hier wieder herrlich zerrütteten Familienverhältnisse erschaudern.

Ich versuche die Geschichte jetzt mal zusammenzufassen, ohne allzu viel zu spoilern. Die zwölfjährige Caitlin lebt mit ihrer Mutter alleine irgendwo in Detroit, in einem Stadtteil und einer Wohnung, wo keiner freiwillig wohnt. Einen Vater gibt es nicht. Sheri, die Mutter, geht einer körperlich harten und schlecht bezahlten Tätigkeit irgendwo im Containerhafen nach. Mutter und Tochter verlassen frühmorgens gemeinsam das Haus und kehren spät abends wieder heim. Dann Essen machen, Hausaufgaben, ein wenig Fernsehen, das war’s. Und am nächsten Tag wieder das Gleiche. Jahrein, jahraus – ohne Hoffnung auf bessere Zeiten. Bis ihre Mutter sie abends wieder abholt, vertreibt sich Caitlin die Zeit nach der Schule im städtischen Aquarium. Sie kennt jedes Becken, jeden Fisch und jede Krabbe. Und dort lernt sie eines Tages einen alten Mann kennen, der die Nachmittage mit ihr durch die Unterwasserwelt streift.

So weit, so unschön. Ein normales Leben, hart aber nicht ohne Liebe. Mutter und Tochter sind eine symbiotische Einheit, im harten Alltagstrott vereint, geben sich gegenseitig Halt und Wärme. Doch damit ist es schlagartig vorbei, als herauskommt, dass der alte Mann im Aquarium Caitlins Großvater ist. Was für Caitlin das größte Glück bedeutet, denn sie wünscht sich nichts sehnlicher als eine richtige, große Familie, ist für Ihre Mutter Sheri eine Katastrophe. Sheri hasst ihren Vater, seit er vor mehr als zwanzig Jahren einfach abgehauen ist und sie, damals im gleichen Alter wie ihre Tochter heute, mit der todkranken Mutter zurückgelassen hat. Sie musste ihre Mutter viele Jahre bis zu ihrem Tod pflegen und hat dadurch nicht nur Schule und Ausbildung versäumt, sondern auch keine Freunde, keine Freizeit und keine Kindheit mehr gehabt. So etwas kann man nicht verzeihen, damit hat sich ein Vater auf ewig jeden Anspruch auf Tochterliebe verspielt.

Doch genau das erwartet Caitlin von ihrer Mutter. Sie liebt ihren Großvater und will ihn, einmal gewonnen, nicht wieder verlieren. Ihre Mutter soll verzeihen, soll ihren Hass überwinden. Das kann doch nicht so schwer sein. Ist es aber doch. Und den Ursprung des Schmerzes soll Caitlin am eigenen Leib erfahren. Sie soll das erleben, was sie damals auch durchleben musste. Und so läuft die Geschichte auf eine dramatische Zerreißprobe hinaus. Ein Hin und Her zwischen Liebe und Hass, brutal, schmerzhaft und traumatisch.

David Vann erzählt die Geschichte aus Sicht der zwölfjährigen Caitlin und beherrscht die kindliche Erzählperspektive perfekt. Da ist nichts albern oder altklug, sondern alles authentisch und stimmig. Passend dazu ist die Sprache einfach und klar. Keine Schnörkel und literarischen Spielereien. Als Leser gleitet man so dahin, ist schnell drin in der Geschichte und spürt von Seite zu Seite, wie Vann die Schlinge enger zieht, wie sich beim Lesen alles verkrampft und man auf einmal mittendrin ist, in diesem brutalen Beziehungschaos.

Und als Leser lässt einen die Geschichte auch deswegen schon nicht kalt, weil sich parallel eine zweite Ebene aufbaut. Die eigene Geschichte, meine Kindheit, all das was ich meinen Eltern nicht verzeihen kann, das, was mich heute noch blockiert, was ich mir anders gewünscht hätte, was man aber einfach nicht mehr rückgängig machen kann. Wenn man nachdenkt, findet sicherlich jeder Ereignisse im Leben, an denen sich etwas entschieden hat. Wo auf einmal klar war, das ist jetzt der Weg, den du gehen musst, ob dir das nun gefällt oder nicht.

Und so bin ich bei der Lektüre von Aquarium permanent in zwei Welten unterwegs. In der Romanwelt und meiner eigenen. Leide mit Caitlin mit, kann aber auch ihre Mutter und ihren Hass verstehen und genauso den Großvater, der ja eigentlich nichts gemacht hat, außer nichts zu machen und zu gehen. Aber Familie funktioniert so nicht, da hat alles seine Konsequenzen. Machen oder nicht machen, sich kümmern oder nicht, verstehen oder nicht verstehen.

Wenn man mich fragen würde, wo genau der Unterschied zwischen anspruchsvoller Literatur und einem Unterhaltungsroman liegt, dann wäre es genau das soeben Beschriebene. Gute Literatur ist niemals eindimensional. Da ist neben der eigentlichen Handlung immer auch eine weitere Ebene, öffnet sich ein zweites oder drittes Fenster und gibt den Blick frei auf Dinge, die wir als Leser mit unserem ganz individuellen Wissen und Erfahrungen angereichert für uns entdecken können. Und das ist David Vann mit Aquarium wieder einmal ganz hervorragend gelungen. Er erzählt nicht nur die Geschichte von Caitlin und ihrer Mutter, sondern zeigt uns auch die vielen Abstufungen und verborgenen Ebenen zwischen Liebe und Hass. 

Verlag: Suhrkamp

283 Seiten, 22,95 €

9 Kommentare

  1. Ich habe vor einigen Jahren Vanns Roman „Im Schatten des Vaters“ gelesen, der mir wunderbar gefallen hat. Ich glaube, Literatur sollte auch das Dunkle zeigen, auch wenn es schockiert und uns aus dem beschaulichen Alltag holt. Dabei gibt es ja im Leben vieler ungemein dramatische Geschehnisse. Das sehe ich gerade auch bei dem Roman „Montana“ von Smith Henderson, den ich gerade lese. Dein tolle Besprechung hat mich erinnert, mal wieder ein Buch von Vann zu lesen. Viele Grüße

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