Thomas Glavinic – Der Jonas Komplex

 

Thomas Glavinic – Der Jonas-Komplex.

Manche Bücher liest man so dahin. Blättert Seiten, nickt hier und da zustimmend, wundert sich, lächelt oder schüttelt missbilligend den Kopf. Und obwohl man sich ganz gut unterhalten fühlt und eigentlich auch nichts auszusetzen hat – thematisch, sprachlich und überhaupt – ist man nicht zufrieden und irgendwie ratlos. Der Jonas-Komplex ist so ein Buch. Normalerweise hätte ich es mit leerem Blick und schulterzuckend ins Regal gestellt, und wenn mich einer nach meiner Einschätzung fragen würde, hätte ich gesagt: Es ist gut, ich weiß aber nicht warum.

Doch ich bin ja nun mal Buchblogger und schreibe über die Bücher, die ich zu diesem Zweck von den Verlagen bekomme. Es muss also eine Meinung her. Entweder zu Thomas Glavinic oder zu seinem neuesten Roman; im besten Fall zu beidem.

Fangen wir bei Thomas Glavinic an. Ja, was soll ich zu dem Typen sagen? Ich habe ihn nie getroffen, mich nie mit ihm auseinandergesetzt, sondern einfach nur zwei seiner Bücher gelesen. Trotzdem glaube ich, ihn schon gut zu kennen. Wer seinen überwiegend autobiografischen Roman „Das bin ja ich“ kennt, kommt nach den ersten Seiten von Jonas-Komplex nicht umhin zu denken: Das ist ja er. Schon wieder dieser Romane schreibende Ösi-Macho auf seinem Drogentrip durch Wien.

Die Frage, bei der normalerweise alle Autoren mit den Augen rollen, nämlich: Wieviel Autobiografisches steckt in ihren Romanfiguren? Diese Frage kann man sich bei Glavinic sparen, denn es sind auf alle Fälle mehr als 70 Prozent. Ich kenne nur wenige Autoren, die ihr eigenes Leben so hemmungslos in ihren Romanen ausrollen. Die FAZ nennt diesen Seelenstriptease „Die Vermessung des Ichs“, in Anspielung auf den Glavinic-Bro Daniel Kehlmann.

Und so ist es auch in diesem Buch. Einer der drei Protagonisten ist einwandfrei der Autor himself. Nach zwei Romanen und dem Liken seiner Facebookseite, kenne ich die Kneipen, in denen er abhängt, die Orte, wo er sich seine Drogen besorgt, die Saufkumpels und habe sogar eine leise Ahnung, wer die junge erfolgreiche Autorin namens Helen sein könnte, mit der sein Roman-Ego ab und zu ins Bett geht. Ich will das eigentlich alles gar nicht wissen, mir ist das peinlich – zu viel Information. Ich halte mir Augen und Ohren zu und rufe laut: Blumenwiese! Und trotzdem kann man natürlich nicht genug davon bekommen. Wie ein Voyeur liest man immer wieder hin, begleitet die Glavinic-Figur durchs Wiener Nachtleben und wird den ganzen Suff und Dreck auch nach 750 Seiten nicht leid, obwohl man natürlich ganz genau weiß, was passieren wird. Wenn er erstmal ordentlich getankt und gekokst hat, schreibt er wieder Mails an Gott und die Welt, von denen er am nächsten Morgen nichts mehr weiß. Oder er wacht neben irgendeiner wildfremden Frau auf, die eine Lederjacke mit Fransen trägt.

Aber da sind ja noch zwei weitere Protagonisten, nämlich Jonas, ein stinkreicher Sonderling, der extreme Erfahrungen liebt und ein 13-jähriger Jugendlicher aus der Steiermark, der gerne masturbiert und ansonsten sehr gut Schach spielt. Ich muss ganz ehrlich sagen, ich habe nicht so richtig verstanden, was Glavinic mir mit dieser Figurenkonstellation sagen will. Irgendwo auf den ersten Seiten und im Klappentext steht: „Beim letzten Durchzählen kam ich auf mindestens drei Personen, die jeder von uns ist. Erstens die, die er ist, zweitens die, die er zu sein glaubt und drittens die, für die ihn die anderen halten sollen.“

Ok, das klingt zunächst so, als wenn es einem weiterhelfen könnte. Die erste Figur ist natürlich Drogen-Glavinic. Aber ist die zweite Person, die, die er zu sein glaubt, dann Jonas? Oder ist es der junge Schachspieler? Aber wer bitteschön ist dann die dritte Person? Oder ist alles ganz anders und der Glavinic-Darsteller ist die dritte Person, weil er eben ein Darsteller ist, nicht authentisch, sondern die Person, für die andere einen halten sollen.

Mir raucht der Kopf. Ich bekomme da keine Ordnung rein. Das ganze Buch bleibt mir ein Rätsel. Dabei liest es sich noch nicht mal kompliziert oder schwierig. Ganz im Gegenteil, der Roman ist sehr unterhaltsam und leicht verständlich. Nichts Hermetisches, keine frei schwebenden Assoziationen – es liest sich so weg. Andererseits ist er aber sprachlich auch nicht wirklich bemerkenswert. Ich habe keine Formulierungen und Passagen entdeckt, die man sich unbedingt anstreichen muss. Kein besonderer Rhythmus, keine Melodie. Trotzdem clean und sauber formuliert und irgendwie cool und lässig. Und bin mir sicher, dass Glavinic damit auf der Longlist des Deutschen Buchpreises landen wird. Weil er bisher fast immer mit einem seiner Romane dabei war, entweder als Quoten-Macho, als Quoten-Österreicher oder mit diesem Buch als Quoten-Ü-700-Seiter. Verdient hätte er es diesmal alleine für den Jonas-Part und die Figur des Jungen aus der Steiermark. Denn da sind auch noch Wochen nach der Lektüre Bilder im Kopf, die man so schnell nicht mehr los wird. Wie die Expedition zum Südpol, das Betäuben und Aussetzen an irgendwelchen skurrilen und einsamen Orten auf der Welt und natürlich die Pflegemutter, die das Schamhaar des 13-Jährigen nach Sackläusen durchsucht.

Und am Ende frage ich mich: Ist der Zustand, in dem ich mich jetzt befinde, dass ich nämlich überhaupt nicht weiß, ob ich da ein gutes, ein schlechtes oder einfach nur ein ziemlich durchschnittliches Buch gelesen habe, ob dieser Zustand Zufall ist oder aber ein sehr ansteckendes literarisches Krankheitsbild namens „Thomas-Komplex“.

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Foto: Gabriele Luger

Verlag: S. Fischer
752 Seiten, 24,99 €

 

5 Kommentare

  1. Ich bin ja, das habe ich glaube ich schon einmal geschrieben, nicht unbedingt ein Glavinic-Fan und würde ihn nach den Kriterien des letzten Artikels auch nicht unbedingt der „anspruchsvollen Literatur“ zuordnen, dazu plätschert es wohl zu leicht dahin, ist zu Ich-bezogen, zu aggressiv oder was auch immer.
    Trotzdem bin auch ich mir ziemlich sicher, daß er auf der Liste landet, wenn nicht auf der deutschen, dann auf jeden Fall auf der österreichischen, wahrscheinlich auf allen beiden und dann werde ich das Buch, sofern ich es geschickt bekomme, auch lesen, bisher habe ich nur die Diskussion in Leipzig auf dem blauen Sofa daraus gehört, beziehungsweise seine Lesung bei den OP-Tönen https://literaturgefluester.wordpress.com/2016/07/14/beginn-der-oe-toene/, da hat mich mein Mann auf seine „Sargnagel-Beschimpfungen“ im Facebook, bzw. „Falter“ aufmerksam gemacht, die mir nicht sehr gefallen.
    Ja, Thomas Glavinic ist eine interessante Figur der literarischen Szene und die „Arbeit der Nacht“ steht bei mir auch noch irgendwo herum!
    Liebe Grüße aus Wien!

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    1. Ist er Ihnen denn noch nie in Wien über den Weg gelaufen? Einfach mal eine Zeitlang im „Otto e Mezzo“ oder im Café Anzengruber ausharren, dann begegnet man ihm bestimmt.

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  2. Na, ja, das habe ich schon geschrieben, als „Das bin doch ich“ herausgekommen ist, https://literaturgefluester.wordpress.com/2009/08/19/thomas-glavinic/ war die Präsentation, in dem Lokal in der Straße, wo ich wohne und meine Praxis habe, da dachte ich dann eine Zeitlang, daß er bei mir in der Nähe wohnen könnte.
    In das Cafe Anzengruber komme ich aber nicht und inzwischen ist er auch so berühmt, daß Begegnungen eher nicht mehr möglich sind, denn er liest wahrscheinlich im „Rabenhof“ und da gehe ich nicht hin, weil man da was zahlen muß, in die „Alte Schmiede“, glaube ich, kommt er nicht mehr, aber er hat die O-Töne eröffnet, da habe ich ihn gehört und vor Jahren war ich auch einmal im Literaturhaus, als der „Kameramörder“ vorgestellt wurde, da habe ich mit ihm diskutiert, daß mir das Buch zu brutal und zu aggressiv zu sein scheint. Gelesen habe ich es aber noch nicht, es liegt aber auch auf meinem Bücherstapel, weil es mal im offenen Bücherschrank war.

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  3. sehr schöne rezension. mir ging es ähnlich mit/nach dem lesen von knausgards „leben“. ähnlich ratlos. allerdings zwischendrin bereits impulse, das buch einfach sein zu lassen, besonders in den passagen, in denen er ausufernd beschreibt, mir zu sehr. inzwischen stehe ich, was das buch angeht, mit etwas zeitlichem abstand, weitaus sicherer. vielleicht geht es dir mit glavinic, den ich bislang noch nicht las, ebenso. mit etwas abstand wird klar: das war es nicht oder das war es doch, oder das war es zumindest da und da und da nicht, wenn du verstehst, was ich meine. jedenfalls – es war mir ein vergnügen, hier über deine ratlosigkeit zu autor und buch zu lesen.

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