Hans Platzgumer – Am Rand

 

Naturverbunden, wortkarg, eigensinnig – so stellt man sich als Norddeutscher klassischerweise einen Österreicher vor. Dazu ein wettergegerbtes Gesicht, stramme Bergsteigerwaden und ein derber Dialekt. Bestimmt hatte Hans Platzgumer seinen Südtiroler Helden Georg Ebner ganz anders vor Augen, aber in meinem norddeutschen Hirn sind nun mal diese ganzen Alpenklischees gespeichert. Und so hat Georg in meiner Vorstellung natürlich einem Tirolerhut auf, während er auf einem Berggipfel am Rand eines Felshangs sitzt und einen ganzen Tag lang seine Erinnerungen aufschreibt.

Das ist die Rahmenhandlung. Der Romanheld sitzt am Rand des Abgrunds und blickt noch mal zurück, rekapituliert für sich und für uns Leser, wie er dahin gekommen ist. Wir begleiten ihn, als er frühmorgens zu Hause aufbricht, die leere Wohnung für immer verlassend, um den Berg zu besteigen – immer höher und weiter – bis es weder höher noch weiter geht. Wir blicken von ganz oben mit ihm zurück auf seine Jugend in der südtiroler Siedlung, auf seine Beziehung zur Mutter, einer ehemaligen Hure mit ihm als ihren Hurensohn, auf die Kinder, die ihn damit aufziehen, auf seine wenigen Freunde, mit denen er sich im Karateunterricht fürs Leben stählt, auf seine erste und einzige Liebe.

Das liest sich zunächst etwas zäh. Ich hatte Mühe, in das Buch hineinzukommen, es plätscherte auf den ersten 70 Seiten so dahin, konnte mich nicht richtig packen. Keine der Figuren – inklusive die des Protagonisten – entwickelte Kontur; ich langweilte mich und war kurz davor abzubrechen. Aber dann kam auf einmal der Großvater ins Spiel, die Geschichte nahm Fahrt auf und fing an, mir richtig gut zu gefallen. Auf einmal machten auch die langweiligen ersten Seiten Sinn, alles schien perfekt hergeleitet zu sein, und ich befand mich plötzlich mitten in einem bedrückenden Pageturner, den ich bis zum Schluss nicht mehr aus der Hand legen konnte.

Natürlich – mag der Kritiker einwenden – natürlich sind Morde ein billiges Stilelement, um eine seicht dahinplätschernde Handlung wieder aufzuladen, um gelangweilte und beinahe abspringende Leser wieder ins Boot zu holen. Trotzdem musste dieser erste Mord sein, um dieser Geschichte einen tieferen Sinn zu geben. Danach kommt noch ein Mord und auch der macht Sinn, ist wie der Erste, mehr oder weniger aktive Sterbehilfe. Und mit den beiden Taten im Gepäck warten wir auf das nächste wirkliche Verbrechen. Wir wissen, die Wohnung ist leer. Georgs Frau und das Kind sind nicht mehr da, kommen auch nicht mehr wieder. Die Vermutung liegt nah, dass er auch sie getötet hat.

Ich will nicht zu viel verraten, aber es kommt ganz anders als erwartet. Und so unerwartet es ist, so tragisch ist es auch. Mit dieser Tragik spielt dieses Buch. Sie macht es erst besonders; das ist der literarische Move, den Platzgumer geschickt an den richtigen Stellen platziert hat. Und so steht der Roman auch vollkommen zu Recht auf der Longlist des Deutschen Buchpreises. Dass er es nicht weiter geschafft hat, geht mit dem Umstand einher, dass die Geschichte zwar spannend ist, aber irgendwie nicht tief genug geht. Es passieren zwar die ungeheuerlichsten Dinge, warum und wieso wird aber nicht so richtig klar.

Am Ende bleiben viele Fragezeichen und die altbekannten Alpenklischees. Auch nach 200 tragischen Seiten bin ich der Hauptfigur nicht wirklich näher gekommen. Ich weiß nur, er hat stramme Waden und trägt einen Tirolerhut.

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Verlag: Zsolnay
208 seite, 19,90 €

4 Kommentare

  1. Abgesehen, daß ich von innen heraus, dieses Österreich-Klischee nicht so empfinde, hatte ich mit dem Buch https://literaturgefluester.wordpress.com/2016/08/31/am-rand/ meine Schwierigkeiten, das ich schon einmal bei einer Präsentation in der „Alten Schmied“ https://literaturgefluester.wordpress.com/2016/02/09/hans-platzgumer-neu-entdeckt/ hörte, das mir sehr sehr konstruiert erschien.
    Der Kirchhoff https://literaturgefluester.wordpress.com/2016/09/09/widerfahrnis/ ist das wohl auch und wahrscheinlich noch viele andere, aber es hat nach meinem Geschmack fürchterliche Metaphern, beispielsweise die, wo der erfolglose Schriftsteller vom Stapel seiner ungelesenen Bücher in die Schlinge springt und dann die Morde, Platzgumer sagte ja in der „Alten Schmied“, es ist ein Buch über das Sterben und scheint das Schreiben darüber sehr genossen zu haben, die sind mir als gewaltfreie Frau auf die Nerven gegangen und warum, um aller Welt mußte er den Großvater morden, weil der viel redete und dabei auch manchmal spukte?
    Da sehe ich kein muß und hatte mit dem Buch, das ich ziemlich am Beginn gelesen habe auch meine Schwierigkeiten und jetzt könnte es sein, daß ich, die ich ja immer noch bei meinen zwei persönlichen Shortlistbüchern, bei bis jetzt gelesenen elf stehe, daß ich mein drittes, das eigentlich ganz ähnlich angesiedelt ist, nämlich Reinhard Kaiser-Mühlecker „Fremde Seele, dunkler Wald“ https://literaturgefluester.wordpress.com/2016/09/22/zweifache-longlisten-einfache-shortlistenlesung/, gefunden habe, das habe ich allerdings noch nicht gelesen.
    Die anderen zwei sind das Memoir des Thomas Melle https://literaturgefluester.wordpress.com/2016/09/13/die-welt-im-ruecken/ und wenn es auch vielleicht verwundert, Sibylle Lewitscharoffs „Pfingstwunder“, liebe Grüße aus Wien, wo nicht lauter wortkarge Rübezahls herumlaufen, wenn vielleicht auch ein paar Melancholiker!

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  2. Ich bin immer noch nicht ganz zu Ende mit meiner Lektüre von „Am Rand“, deshalb kenne ich noch nicht die unerwartete Wendung. Mir hat der Roman aber auch schon auf den ersten siebzig Seiten gut gefallen, auch wenn der Held da sehr viel reflektiert. Ich mochte da vor allem die Sprache und sein „jeden-Stein-herumdrehen“, um auch darunter nachzuschauen, was es zu entdecken gibt. – Ob das wohl den Unterschied unserer häufig so kontroversen Leseerfahrungen ausmacht? Dass Du eher eine Handlung bevorzugst und ich auch dem Hin und Her des Nachdenkens etwas abgewinnen kann?
    Viele Grüße, Claudia

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    1. Ich soll eher Handlung bevorzugen? Auf gar keinen Fall. Aber ich bin ein Fan vom roten Fäden im Erzählstrang, Gedanken, die irgendwo hinführen und mich zumindest in Ansätzen interessieren.

      Wahrscheinlich interessieren wir uns einfach für unterschiedliche Dinge. Ich mein, du hast ja im letzten Jahr auch den Peltzer gut gefunden. Kann ich bis heute nicht verstehen. Aber dann gefällt dir bestimmt auch der Stadler auf der Longlist.

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      1. Ist das nicht diese Geschichte einer alten Ehe in Stadlers Roman? Und heißt nicht die Hauptfigur „Mausi“? Nein, der Roman interessiert mich eher nicht. Den werde ich nicht lesen, auch wenn er nun auf der Longlist stand. Aber bei „Widerfahrnis“ sind wir dann wieder zwei sehr getrennter Meinungen. So bleiben wir uns und unseren völlig gegenteiligen Leseauffassungen also ganz traditionell treu :-). Und ich streiche den Klärungsversuch mit der Handlung und werfe nun einen stärkeren Blick auf den roten Faden. Ich muss ja noch ein paar Besprechungen schreiben… (Und melde mich in der kommenden Woche noch mal im Büro.)

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