Literarische Helden (6) – Boris Vian

 

Lang ist es her, seit dem letzten Heldenbeitrag. Diese Reihe ist irgendwie ins Stocken geraten. Kein Wunder, denn so viele literarische Helden habe ich auch gar nicht – gar nicht mehr, um es genau zu sagen. Früher hätte ich mindestens zwanzig oder mehr Namen nennen können. Früher – das war vor gut dreißig Jahren. Damals, Anfang zwanzig war ich noch schnell zu begeistern, sofort Feuer und Flamme, wenn mir ein Buch, ein Autor gut gefallen haben. Heute ist die Reizschwelle etwas höher, da muss sich schon einer viel Mühe beim Schreiben geben, um mich als Fan zu gewinnen.

Zu den literarischen Helden meiner jungen Jahre gehört ohne Frage Boris Vian. Ich hatte diesen auch damals nicht sehr bekannten französischen Autor bei Zweitausendeins entdeckt. Der Frankfurter Verlag mit den legendären Katalog-Merkheften hat in den frühen Achtzigern die links-alternative Jugend in der Provinz mit passendem Lesefutter versorgt. Von Handbüchern zu Wehrdienstverweigerung und Volkszählungsboykott, über Eckhard Henscheid, Gedichte gegen den Krieg, bis hin zu den gesammelten Werken von Boris Vian – bei Zweitausendeins bekam man all das, was die eigentlich gut sortierte Buchhandlung in der Kreisstadt nicht im Angebot hatte oder haben wollte.

Die gesammelten Vian-Romane gehören auch heute noch zu den Schmuckstücken in meinem Bücherregal. Schön illustrierte, stabile Papp-Einbände, kleinformatig, Fadenheftung, Lesebändchen. „Drehwurm, Swing und das Plankton“, „Das rote Gras“, „Herbst in Peking“, „Der Herzausreißer“ und „Der Schaum der Tage“ – so lauten die Titel der fünf Romane. Leider fehlt mir seit vielen Jahren Vians bekanntestes Werk „Der Schaum der Tage“ in dieser Reihe. Meine erste feste Freundin und ich haben dieses Buch geliebt, uns immer wieder daraus vorgelesen und vorgestellt, unsere Liebe wäre genauso stark und endlos wie die des Romanpaares Chloé und Colin. Dem war allerdings nicht so; wir gingen nach einem Jahr wieder auseinander, und in den Wirren der Trennung ist auch das Buch verschwunden.

Vian habe ich seit dieser Zeit nicht mehr gelesen und komplett verdrängt. Vor einiger Zeit fielen mir die Bücher wieder in die Hände, und ich wollte schon einen Beitrag für diese Rubrik schreiben, musste aber feststellen, dass ich mich nach dreißig Jahren an keinen einzigen der fünf Romane mehr erinnern konnte. Ich wusste nur noch, dass es etwas ganz Besonderes, ich damals schwer beeindruckt und großer Fan war. Durch Zufall entdeckte ich in diesem Jahr auf der Frankfurter Buchmesse am Stand von Hoffmann & Campe eine Neuauflage vom „Schaum der Tage“. Was für eine Freude! Ich habe nett gefragt und durfte das im Karl Rauch Verlag (einem HoCa-Imprint) erschienene bibliophile Kleinod direkt mitnehmen. Auch diese Ausgabe ist wunderbar ausgestattet, mit einer Art Bütteneinband, Fadenheftung und farbigen Einbandseiten. Wenn es nicht ca. 5 cm höher wäre als meine übrigen vier Vian-Bände, würde es beinahe perfekt zur Sammlung passen.

Letzte Woche habe ich es dann gelesen, und das war dann irgendwie sehr merkwürdig. Ich muss dazu sagen, dass ich so gut wie nie ein Buch zweimal lese. Warum auch? Der SUB ist meterhoch und die Lesezeit begrenzt. Und nein, ich schmeiße trotzdem keine Bücher weg. Dass ich den „Schaum der Tage“ nach dreißig Jahren noch einmal lese, ist also nicht nur eine Ausnahme, sondern auch eine echte Auszeichnung. Aber was soll ich sagen? Ich lese also die ersten Seiten dieses Kultbuches, des besten Romans eines meiner ultimativen, literarischen Helden und kann es gar nicht glauben. Was ist das denn für ein Blödsinn? Das fand ich mal gut? Ich bin fassungslos.

Der Schaum der Tage erzählt die Geschichte des jungen, vermögenden Dandy Colin. Wie alle Dandys lebt er ein Leben des kultivierten Müßiggangs, widmet sich der Musik und dem guten Essen und verliebt sich eines Tages in die wunderschöne Chloé. Sie feiern eine rauschende Hochzeit, doch kurz darauf verlässt sie beide das Glück. Chloé wird krank, ihr wächst eine Seerose in der Brust. Die feudale Wohnung schrumpft, zieht sich zusammen. Colin gibt sein ganzes Geld für Blumen aus, die er rund um Chloés Krankenlager verteilt, um die Seerose in ihrer Brust zu bekämpfen. Am Ende ist alles Geld weg und Colin muss zum ersten Mal in seinem Leben richtig arbeiten gehen. So versucht er sich zum Beispiel als Gewehrkolben-Brüter. Dabei muss er sich 12 Stunden nackt auf den Boden mit Gewehrsetzlingen legen und die Kolben mit seiner Körperwärme ausbrüten. Doch er bewegt sich zu viel, die Kolben wachsen nicht gerade, und er verliert diesen Job. Da bleibt ihm nur, sein geliebtes Cocktail-Piano zu verkaufen, das zu jeder gespielten Melodie den passenden Cocktail mixt.

Ich hatte vollkommen vergessen, dass nicht nur dieser, sondern alle Romane Vians total abgedreht und surrealistisch sind. Und ich hatte auch vergessen, dass ich damals alles Verquere und Unkonventionelle im Gegensatz zu heute grundsätzlich grandios fand und Fan des Surrealismus war. Dass ich einmal dreißig Jahre später über Mäuse, die Lichtstrahlen einfangen nur müde lächeln kann, wäre mir damals nicht im Traum eingefallen. Und so erlebe ich mit dieser Lektüre nicht nur einen meiner alten literarischen Helden noch einmal neu, sondern treffe auch einen Tobias, den ich ebenfalls längst vergessen hatte. Einen jungen Träumer, der sich lesend in andere Welten flüchtete, immer schon anders sein wollte, andere Bücher las, andere Wege gehen wollte, gerne quer dachte und sich nicht anpassen wollte.

Was ist aus diesem Menschen geworden? Einer, der mit den Augen rollt, wenn irgendetwas nicht rational erklärbar ist. Einer, der sofort zumacht, wenn eine Geschichte in irgendwelche komischen Sphären abdriftet. Einer – und das ist mir mal wieder so richtig bewusst geworden – einer, der im wahrsten Sinne des Wortes desillusioniert ist.

Das alles ging mir durch den Kopf, während ich las. Mit jeder Seite kam mein jetziges Ich meinem früheren Ich ein wenig näher. Beide sind und bleiben unterschiedlich – zu viel ist seitdem geschehen – aber sie wissen voneinander, akzeptieren sich und sind wieder im Austausch. Und wer weiß, vielleicht kann ja mein altes Ich die schwarze Spinne in meinem Kopf dazu bewegen, wieder ein paar Lichtstrahlen durchzulassen. Auf alle Fälle habe ich den „Schaum der Tage“ nach dieser Reise zu mir selbst tief bewegt aus den Händen gelegt und gedacht: was für ein schöner Blödsinn.

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„Der Schaum der Tage“ ist erschienen bei:
Verlag: Karl Rauch
216 Seiten, 20,00 €

4 Kommentare

  1. Boris Vian – nie gehört! Und nach Deinem Text werde ich ihm wohl auch nicht einen Versuch geben. Muss ich auch nicht. Viel wichtiger: Du hast so Recht! Mir geht es mit Peter Handke so. Ich hab ihn verschlungen und heute? Große Meisterschaft ohne Frage aber die beigemessene Bedeutung ist flöten gegangen… Find ich aber weiter nicht schlimm und zähle ihn nach wie vor zu meinen persönlichen „Helden“. Eben für das, was er mir mal beibrachte, eröffnete, bedeutete….

    Sehr schöner Text!

    Gruß
    Stefan

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  2. Schön geschrieben. Ich kenne leider den Autor nicht, muss aber sagen, dass mein Interesse geweckt wurde. Das Gefühl, einem Buch, Jahre später, nicht mehr „nahe“ zu sein, es blöd zu finden, kenne ich. Es ist ein komisches Gefühl. Es ist in etwa so, als träfe man sich mit einem alten Freund nach langer Zeit, mit dem man heutzutage nichts mehr gemein hat.

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