Hanya Yanagihara – Ein wenig Leben

 

Ich hatte dieses Buch überhaupt nicht auf dem Schirm, wollte es eigentlich gar nicht lesen. Doch es war eines Tages einfach in der Post, nett verpackt in einer maßgefertigten, passend bedruckten Kartonage mit einer handgeschriebenen Karte vom Verleger. Und ich muss schon sagen, das hat sofort Eindruck gemacht. Man wusste gleich, dass das nicht irgendeine Neuerscheinung sein kann, sondern der ultimative Toptitel von Hanser Berlin. So muss man es machen – direct marketing at its best. Natürlich poppten sofort bei Twitter, Facebook und Instagram jede Menge Fotos auf, die belegten, dass ich beileibe nicht der einzige Blogger war, auf den dieses Mailing Eindruck gemacht hat.

Und selbstverständlich hatte ich auch schon von der versteckten Holzhütte in der brandenburgischen Einöde gehört, in die Journalisten, Blogger und Buchhändler eingeladen wurden, um drei Tage in völliger Abgeschiedenheit aber mit gut gefülltem Kühlschrank diesen bedrückenden Tausendseiter zu lesen. Auch das ist eine grandiose Idee, einfach und schnell umzusetzen, man muss nur erstmal drauf kommen. Aber das Hanser Marketingteam hat ja schon öfter bewiesen (zuletzt bei Tilman Rammstedts „Morgen mehr“), dass es eines der kreativsten in der Verlagsbranche ist.

So war dieser Roman schon in aller Munde, bevor irgendeiner auch nur einen Satz davon gelesen hatte. Diejenigen, die ihn schon kannten, schienen sich darauf geeinigt zu haben, es unisono sehr bedrückend, intensiv und aufwühlend zu finden. Auch der Verlag bestätigte, nach der Lektüre dieses Buches wäre man ein Anderer, es würde etwas mit einem machen und man wird danach mit jemandem darüber sprechen wollen – sprechen müssen.

Ein paar Tage habe ich gezaudert, habe versucht, mich dem Hype zu verweigern. Doch dann bin ich eingeknickt und in die Lektüre der 960 Seiten eingestiegen. Ich habe mich von meiner Frau verabschiedet, ihr gesagt, dass sie sich nicht wundern soll, wenn ich demnächst ein Anderer sein werde und dann unbedingt und sehr viel mit ihr über die Lektüre dieses Romans sprechen muss. Und damit verschwand ich für ca. zwei Wochen in meiner Leseecke und las über jemanden, der über Jahre hinweg mit niemandem über gar nichts sprechen wollte.

Trotz der knapp 1000 Seiten ist die Geschichte dieses Romans schnell erzählt. Jude St. Francis ist ein Findelkind, das irgendwo im mittleren Westen der USA zwischen Mülltonnen gefunden wurde. Er ist in diversen Waisenhäusern aufgewachsen und auf vielfältige Weise missbraucht worden. Judes traumatische Kindheit und Jugend ist der heiße Brei, um den die sprichwörtliche Katze – in diesem Fall wir als Leser – herumstreichen müssen. Wir steigen in die Geschichte ein, als alles eigentlich wieder gut ist. Jude ist auf dem College und hat Freunde gefunden. Malcolm, Willem und JB begleiten Jude durchs Leben und auch wir als Leser sind fortan immer mit dabei. Jude ist verschlossen und schweigsam und möchte nicht über seine Vergangenheit reden. Alle seine Freunde akzeptieren das – mehr oder weniger. Nehmen es hin, denn sonst würden sie ihn als Freund verlieren.

Wir Leser sind da ein wenig besser gestellt. Uns wird in Rückblenden hin und wieder die Tür zur Vergangenheit geöffnet, und wir bekommen Einblick in Judes Kindheit, sein Leben in einer Männerwelt, in der sich jeder nimmt, was ihm grad so gefällt. Und das war Jude. Doch die Rückblenden sind immer nur kurz; bevor wir zu viel erfahren können, wird die Tür wieder zugesperrt, und wir befinden uns wieder in der Rahmenhandlung. Hier tappen Judes Freunde auch nach der Zeit auf dem College, der Uni, den ersten Jobs, eigentlich bis zuletzt immer noch im Dunklen. Jude schweigt eisern und lässt nichts raus. Und so werden wir von Cliffhanger zu Cliffhanger geführt, erfahren alle hundert Seiten ein paar Details mehr von Judes grauenvoller Kindheit und schauen dem Protagonisten dabei zu, wie er sich mit der ganzen unverarbeiteten Last der Vergangenheit schweigsam durchs Leben quält und einzig Erleichterung darin findet, indem er sich mit der Rasierklinge die Arme aufschneidet.

Die Lektüre dieses Romans war für mich ein echtes Wechselbad der Gefühle. Ich bin aufgrund des angefachten Hypes mit einer sehr hohen Erwartungshaltung gestartet, fragte mich auf den ersten dreihundert Seiten ob ich irgendwie gefühlskalt bin oder warum mich nichts sonderlich berührt oder gar aufgewühlt hat. Dann konnte ich mich arrangieren und kam langsam rein. Stellenweise hatte ich einen Kloß im Hals und konnte nicht fassen, was ich da las. Aber als ab Seite 700 die Katze endlich aus dem Sack war, Jude alle Grausamkeiten rausgelassen hatte, aber die Geschichte immer noch nicht zum Ende kam, sondern noch auf 250 Seiten den finalen Todesstoß einleitete, habe ich echt die Geduld verloren und angefangen, nur noch quer zu lesen.

Trotz allem Verständnis und Mitgefühl war ich ab da nur noch genervt von Jude, von seiner Verstocktheit, von seinem ewigen Selbstzerstörungs-Mantra, seiner Weigerung, sich helfen zu lassen. Ich war enttäuscht von seinen Freunden, die Jahrzehntelang hilflos und stumm die Umstände begleiteten. Ich fand auf einmal gar nichts mehr stimmig an dieser Geschichte. Eine Männerwelt, die entweder nur brutal verletzend oder aber übertrieben liebevoll und mitfühlend ist. Nichts dazwischen, reine Schwarz-Weiß-Malerei. Wenn schon Gut hier und Böse da, dann bitte auch sprachlich deutlich getrennt. Stattdessen beschreibt die Autorin den schweren Missbrauch in fast schon blumigen, verschämten Umschreibungen. Da wird kein Klartext geredet, weder das Wort Schwanz, noch der Schwanz als solches jemals in den Mund genommen. Da wird weder gefickt noch penetriert, da wird nur andeutungsweise eingedrungen und danach sanft abgeblendet.

Auch das typisch Amerikanische an der Geschichte hat mich genervt. Alle vier Freunde sind am Ende maximal erfolgreich und reich. Kein Mittelmaß, nein alles ganz tolle Superstars, die Stiftungen gründen und so. Und das Ende – ich will hier gar nicht spoilern – ist so was von kitschig, Tränendrüsen-melancholisch und Hollywoodtauglich, dass einem schlecht wird. Ich habe mich am Ende geärgert, dass ich so viel Zeit mit einem Buch verbracht habe, das um die Hälfte gekürzt vielleicht gar nicht schlecht gewesen wäre.

Als ich nach zwei Wochen den Roman endlich zuklappen konnte, musste sich meine Frau tatsächlich jede Menge von mir anhören. Über Buchmarketing, das besser ist als das Buch, über literarische Cliffhanger und warum so was in den USA große Literatur genannt wird. „Aber wenigstens bist du nach der Lektüre kein Anderer geworden“, sagte sie nur. Doch bin ich – antwortete ich: zwei Wochen älter und um eine Enttäuschung reicher.

Foto: Gabriele Luger

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Verlag: Hanser Berlin
958 Seiten, 28,00 €

 

 

 

 

15 Kommentare

  1. Vor dem Hintergrund der ganzen Betroffenheitsbesprechungen in Blogs und Rezensionen finde ich diesen Artikel ausgesprochen erhellend. Jetzt glaube ich zu wissen, warum ich schlicht kein Bedürfnis entwickeln kann, das Buch zu lesen. Danke!

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  2. Interessant: Obwohl ich das Buch insgesamt großartig fand, kann ich dir in eigentlich allen Punkten zustimmen (außer dass die Gesamtwirkung auf mich eine andere war). Aber das macht eine gute Besprechung aus: Klarer Standpunkt und trotzdem treffende Analyse. Deine Leser sind sicher dankbar, dass du kein Anderer geworden bist. Viele Grüße, Petra

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  3. Fast hätte ich diese Rezension gar nicht angeklickt, weil mir das Buch einfach aus den Ohren herauskommt. Ich selber habe es zwar nicht gelesen, mein persönlicher Online-Ausschnitt, in dem ich mich über verschiedenste Plattformen herumtreibe, ist aber voll davon. Und alle Stimmen klingen so: Wow! Toll! Sprachlosigkeit! Das Werk des Jahres!
    Ich bin so langsam schon ziemlich genervt davon. Wie kann um ein Buch so ein großer Wirbel gemacht werden und warum lassen sich alle darin mitwirbeln?
    Zum Glück habe ich diese Rezension angeklickt und gelesen, dass es auch kritische Stimmen zu diesem Roman gibt. Nicht alle LeserInnen scheinen Opfer der Marketingstrategie zu sein. Das beruhigt mich etwas.

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      1. Gute Frage – trotz der Kritikpunkte könnte einem das Buch ja etwas geben. Und die Autorin hat es ja nicht hinsichtlich des Marketings geschrieben, sondern so, wie sie es wohl musste / wollte. Also musste aus einem inneren Drang heraus. Also nein, ist man nicht und wenn man es mag, mag man es 😉 Nichts weiter. LG, Bri

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      2. Kann man so sehen. Muss man aber nicht. Ich finde Umkehrschlüsse in Diskussionen doof, weil man damit dem Diskussions“gegner“ etwas in den Mund legt, was er nicht sagte.

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    1. Hallo Erina, auch im letzten Literarischen Quartett ist das Buch ziemlich schlecht weggekommen! Thea Dorn und Elke Schmitter habenauf eine beeindruckend kenntnisreiche, eloquente, coole Weise gezeigt, was für ein schwacher Text das ist. Volker Weidemann, den das Buch richtig umgehauen hat, musste zugeben, das es eigentlich richtig schlecht geschrieben ist, Kitsch hoch zehn.

      Aber vielleicht gibt es doch einen einzigen positiven Aspekt am Erfolg dieser Schwarte:
      Die Lust so vieler Leser (es scheinen besonders viele Männer auf das Werk zu stehen) auf exzessives Geheule. Da ich davon ausgehe, dass die meisten Leser Identifikationsleser sind, können sie in Judes überdimensionierter Mega-Leidensgeschichte ihre eigenen kleinen und großen Leiden beweinen und letztendlich sogar das eine Leiden, das wir alle teilen und das durchaus mit Judes Leiden mithalten kann: Unsere Endlichkeit, die Konfrontation mit der unausweichlichen Auslöschung unseres fragilen, kleinen Daseins.
      Darüber zu weinen ist ab einem bestimmten Alter allen Menschen ein tiefes Bedürfnis, aber in unserer Höher-Schneller-Weiter-Gesellschaft mit ihrem kranken Wachstumsmantra ist kein Raum dafür vorgesehen. So gesehen ist Ein bisschen Leben eher ein therapeutisches als ein literarisches Großereignis, und Jude und seine Freunde mit ihren Superstar-Karrieren müssen nicht als reale Figuren gelesen werden, sondern als Verdichtung aller großkotzigen Rollenmodelle, mit denen die Medien ihre Zuschauer/-hörer heutzutage traktieren (noch nie gab es so viele Jugendliche mit dem „Berufswunsch“ Berühmtwerden).

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  4. Lieber Tobias,
    was für eine herrlich ehrliche Rezension! Ich kann mich da meiner Vorrednerin, Petra, nur anschließen. Wie Du weißt, war auch ich von dem Buch sehr angetan, wobei es für mich aber keineswegs durch und durch perfekt gewesen ist. So hat mich dieses perfekte Amerikanische ebenso genervt. Nur schlecht wurde mir nicht, doch geknurrt wie eine Wölfin habe ich. Ich weiß gar nicht, ob ich den von Dir gewünschten Klartext überall so passend empfunden hätte. Die Story war hart genug. Dennoch weiß ich, was Du meinst und finde den Gedanken nicht ganz abwegig.

    Also, Hut ab, dass Du Dich trotz aller Kritik und Unwohlsein durch das Buch gekämpft hast. Und wer weiß, vielleicht bist Du doch ein anderer Mensch geworden, denn Bücher stellen doch oft etwas mit uns an. Manchmal merken wir es sofort und manchmal erst viel später. 😉

    Es grüßt dich herzlich zum Sonntag

    Klappentexterin

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    1. Liebe Klappentexterin,
      so schlecht, wie das beim Lesen meiner Besprechung vielleicht rüber kommt, fand ich das Buch gar nicht. Eigentlich hat sich mein Ärger erst ab Seite 700 so richtig entwickelt. Das Ende war so ein typisch amerikanischer Moment, ich hätte das nicht gebraucht.

      Vielleicht ist es auch die lange Strecke, die einen anders über Romane nachdenken lässt. Wenn man zwei Wochen in einer Geschichte festhängt, der Autorin soviel Zeit gibt, dann erwartet man auch etwas, was dieses Mehr an Lesezeit rechtfertigt.

      LG Tobias

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  5. Ich werde den Roman erst lesen, wenn die Aufregung um ihn und der Hype etwas verebbt ist und mein Kopf weitestgehend frei ist von den wohlwollenden wie auch kritischen Beiträgen. Deine persönliche Auseinandersetzung hat mir wunderbar gefallen. Viele Grüße

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  6. Ich verstehe deine Kritikpunkte gut und kann sie bis zu einem gewissen Grad teilen. Wie gesagt: das Schwarz-Weiß der Männerbilder habe ich so nicht wahrgenommen, denn es wird selbst über den missbrauchenden Bruder Luke nicht ausschließlich Grausames erzählt und außerhalb Judes existieren Figuren, die ihre eigenen Leben und Schwierigkeiten haben, die weder abgrundtief böse sind noch verblendet vor Liebe zu Jude. Was das Vokabular des Missbrauchs anbelangt, weiß ich nicht, weshalb man diese Situationen unbedingt mit harten Worten beschreiben muss? Gibt es nur eine adäquate Darstellungsweise? Ich stimme dir zu: das Buch ist übersteigert in jeder Hinsicht, im Guten wie im Schlechten. Das kann man berechtigt kritisieren, auch wenn es sicherlich genau die Absicht der Autorin war. Die Geschichte, wie sie erzählt werden sollte, hätte kaum funktioniert, wenn Jude einfach gesagt hätte: Okay, dann lass ich mich halt therapieren. Zumal Therapie eben kein Allheilmittel ist. Auch das thematisiert der Roman. Und auch das kann man nervig finden, weil es eben immer wieder um dieselben Verhaltensweisen kreist. Ich habe es als sehr realistisch empfunden und gerade deshalb als so einnehmend und packend.

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    1. Hallo Sophie,

      kann es sein, dass Du zum ersten Mal hier bei mir kommentierst? Dann willkommen im Buchrevier!

      Einer der Gründe, weswegen ich mich überhaupt auf diesen Roman eingelassen habe, war Deine positive Rückmeldung dazu. Letztlich wollte ich, dass es mir genau so wie Dir mit diesem Buch ergeht. Wünschen sich nicht alle so ein intensives Leseerlebnis? Das sind doch genau die Highlights, über die man dann erfüllt und selig erzählen kann. Deswegen ist die Marketingstrategie des Verlages auch nicht verkehrt, denn bei dir hat es ja funktioniert.

      Um so enttäuschter war ich, als der Funke bei mir nicht überspringen wollte. Natürlich gibt es in dem Roman nicht nur Gut und Böse, sonst würden wir uns hier auch gar nicht über dieses Werk unterhalten. Vielleicht hätte ich mich an den Männerbildern auf einer kürzeren Strecke auch nicht gestoßen. Aber auf 1000 Seiten ausgewalzt, setzt man sich ganz anders mit den Figuren auseinander. Irgendwann ist die Toleranzgrenze überschritten und dann steht das Urteil. Insbesondere die Beziehungen zu Harold, Willem und Andy fand ich persönlich weiblich verklärt (Stichwort: Affenliebe). Nach meiner Einschätzung funktioniert Freundschaft unter Männern nicht so. Da ist die Beziehung zu Malcolm und JB schon wesentlich glaubwürdiger aufgebaut.

      Es wird ja immer wieder gerne diskutiert, ob eine Frau sich überhaupt in die männliche Gedankenwelt einfühlen kann. Ich glaube das ist gar nicht so schwierig und es gibt genügend Beispiele, wo das gut gelungen ist. Hier würde ich sagen, ist es nicht so gut gelungen.

      Liebe Grüße

      Tobias

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  7. Oha, ja dann … warte ich auf jeden Fall ab … habe im Moment mal wieder genügend (dicke) Lektüre, die mich fesselt. Fundiert begründet. Danke. LG, Bri

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