Sina Pousset – Schwimmen

Dieses Buch ist mal wieder der Beweis. Man braucht nicht unbedingt eine Geschichte, die sich deutlich von anderen unterscheidet, nicht diese eine grandiose Idee, nichts, was es so in dieser Form noch nie gegeben hat. Nein, das braucht man nicht. Man kann es auch machen wie Sina Pousset und einen guten Roman schreiben, mit einem Standard-Plot und Figuren, die sich in jedem zweiten Buch finden lassen.

Die junge Frau und der junge Mann, die sich seit Kindertagen kennen. Beziehungsstatus: es ist kompliziert. Kennt man, hat man hundertmal gelesen. Eine zweite Frau kommt dazu, es wird noch ein wenig komplizierter: ménage à trois. Auch das kommt einem irgendwie bekannt vor. Man lässt sie gemeinsam in den Urlaub fahren, lange Gespräche am Strand führen, sich eifersüchtige Blicke zuwerfen. Gibt es da nicht sogar einen Film mit Romy Schneider?

Und auch alles andere am Debütroman von Sina Pousset ist nicht gerade unique. Er stirbt, beide Frauen trauern, eine zerbricht daran, die andere kommt irgendwie klar. Die eine ist von ihm schwanger, die andere zieht das Kind groß und nach ein paar Jahren sind beide dann soweit, sich der Vergangenheit zu stellen. Showdown!

 Das klingt zwar jetzt etwas abfällig, ist aber gar nicht so gemeint. Denn tatsächlich ist „Schwimmen“ einer der besten Romane, die ich in diesem Jahr gelesen habe. Und das liegt wieder mal nicht daran, was da geschrieben wurde, sondern wie es geschrieben wurde. Ich habe es auf dieser Seite schon mehrfach behauptet und bleibe dabei: Gute Gegenwartsliteratur braucht keine fantasievollen Storys, keine außergewöhnlichen Locations und schräge Charaktere. Gute Gegenwartsliteratur braucht lediglich einen guten Autor, bzw. eine gute Autorin. Jemanden, der uns mit unserem Leben versöhnt, mit dem ewig Gleichen des Alltags, den Unvermeidlichkeiten des Zwischenmenschlichen, den immer wiederkehrenden Abläufen. Der uns unseren Frieden machen lässt mit den Hoffnungen und Ängsten, die unser Leben bestimmen, die wir für so einzigartig schicksalhaft halten, die aber in Wirklichkeit jeden Zweiten da draußen genauso umtreiben wie uns.

Das alles geschrieben zu sehen, von anderen Leben zu lesen, sie mit dem eigenen zu vergleichen, sich hineinzuversetzen, ein Stück des Weges mitgehen, zuhören und verstehen – das alles macht gute Gegenwartsliteratur aus. Menschen begegnen sich, verbringen Zeit miteinander, erleben ein paar wenige Momente des Glücks, bleiben zusammen oder trennen sich, finden neue Partner oder auch nicht, werden älter und sterben irgendwann. Das ist die Rahmenhandlung unserer Gegenwart. Meines Lebens, deines Lebens und auch des Lebens von Milla, Kristina und Jan, den Protagonisten dieses Romans. Und obwohl ihre Geschichte nur eine von Millionen traurigen Geschichten ist, die das Leben tagtäglich schreibt, ist sie es wert, erzählt zu werden. Wenn es denn jemand macht, der das kann. Der nicht nur Wörter aneinander reiht, Satz für Satz eine Handlung vorantreibt, sondern Stimmungen transportiert, Gefühle vermittelt, uns Leser mitfühlen lässt – den gleichen Schmerz, die gleiche Traurigkeit, wie sie die Romanfiguren auch empfinden. Dann entsteht etwas, was schon Aristoteles als den vollkommenen Kunstgenuss beschrieben hat: die Läuterung der Seele durch die Tragödie, die Katharsis.

Das alles schafft Sina Pousset durch ihre einzigartige, sprachliche Virtuosität. Man hat das Gefühl, jedes Wort, jeder Satz auf den 225 Seiten dieses Romans ist genau das Wort und der Satz, der da jetzt stehen muss – alternativlos. Es anders auszudrücken wäre nicht nur weniger gut, sondern schlichtweg falsch. Man gleitet beim Lesen dahin, Satz für Satz ergibt sich, es fließt, es ist rund. Es entsteht eine Melodie im Kopf, eine ganze Symphonie in Moll. Wer das beherrscht, wer so gut wie diese junge Autorin schreiben kann, braucht keine zündende Idee, keine spannende Story. Mit dieser Gabe kann Sina Pousset wahllos hineingreifen ins Leben, in den stinknormalen Alltag und eine der vielen tausend persönlichen Tragödien zu etwas ganz Besonderem machen: Gegenwartsliteratur vom Feinsten.

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Foto: Gabriele Luger

Verlag: Ullstein fünf
225 Seiten, 18,00 €

Weitere Rezensionen bei: Herzpotential und Paper und Poetry

4 Kommentare

  1. Als Gegenwartsautorin, die sich immer wieder mit dem Zweifel plagt, dass doch jede Geschichte irgendwie schon mal erzählt wurde und wir keine neuen Bücher mehr brauchen, habe ich genau diese Rezension gebraucht. Ich bin neugierig geworden auf das Buch, dass ich -noch- nicht kenne. Und hoffentlich werde ich einmal so schreiben, auch solch eine Besprechung zu verdienen

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