Lucy Fricke – Töchter

Ich freue mich so. Und zwar aus mehreren Gründen. Zum einen darüber, eine bemerkenswerte Autorin entdeckt zu haben, die ich bis dato noch gar nicht kannte. Zum anderen, endlich mal wieder einen Roman gelesen zu haben, der mir ausnahmslos gut gefallen hat – und zwar ohne Anlaufzeit, von der allerersten bis zur letzten Seite. Wann hat man das schon mal, dass man ein Buch anfängt und nach wenigen Zeilen weiß, dass das hier ein großes Lesevergnügen werden wird? Ganz selten. Aber bei Lucy Fricke war ich mir sehr schnell ziemlich sicher, hatte sofort das Gefühl, dass hier eine sehr authentische Erzählung auf mich wartet. Ungekünstelt und trotzdem kunstvoll. Ein Text, der nicht gefallen will, es aber trotzdem tut und zwar genau aus diesem Grunde. So wie Lucy Fricke gleich auf der ersten Seite Italiens Hauptstadt Rom beschreibt – als eine vor sich hingammelnde, desolate Diva, die sich ihrer Schönheit so sehr bewusst ist, dass ihr die ganze Welt den Buckel runterrutschen kann – so ist auch dieser Roman. Von einer geradezu lässigen Anmut gezeichnet, unaufdringlich, gnadenlos ehrlich und mit subtilem Humor durchzogen.

Erzählt wird die Geschichte zweier Frauen, Martha und Betty, die wie Lucy Fricke sagt „…die erste Generation von Frauen waren, die machen konnte, was sie wollte. Das hieß aber auch, dass wir machen mussten, was wir wollten, und das wiederum bedeutet, dass wir etwas wollen mussten“. Dieses Zitat habe ich unterstrichen und mit einem fetten Ausrufezeichen versehen. Bringt es doch das Dilemma nicht nur der Frauen, sondern auch der Männer aller Generationen nach 68 auf den Punkt. Wir sind alle hoffnungslos überfordert: von der Optionsvielfalt möglicher Lebensentwürfe, vom gesellschaftlichen Wandel, dem technologischen Fortschritt, von der schier unbegrenzten Freiheit, die uns ermöglicht, das eigene Leben entweder grandios erfolgreich zu gestalten oder aber krachend in den Sand zu setzen.

Martha und Betty, beide 40-something aus dem Berliner Wrangelkiez, sind zwei typische Vertreter dieser Just-do it-Generation. Wenn alles möglich ist, ist gleichzeitig nichts mehr wirklich erstrebenswert. Es fehlt der Reiz des Verbotenen, das Brechen von Regeln, das Schwimmen gegen den Strom. Kaum noch Konventionen, gegen die man noch rebellieren kann. Alles wandelt sich von selbst zum Guten. Was bleibt, sind ein paar der alten Feindbilder. Allen voran die eigenen Eltern, die wenn sie noch da sind, entweder dement oder noch verbohrter und eigensinniger geworden sind. Doch gegen jemanden zu revoltieren, um den man sich gleichzeitig kümmern muss, macht auch wieder keinen Sinn.

Und so fahren die beiden Frauen mit Marthas krebskrankem Vater nach Italien. Eigentlich sollte es ja in die Schweiz gehen. Mit einem alten Golf von Berlin aus runter in die Sterbeklinik. Ein letzter Becher auf ex und dann Feierabend. Diesen letzten Wunsch konnte und wollte Martha ihrem Vater nicht verwehren. Aber alleine wollte sie das auf gar keinen Fall machen – Betty soll mitkommen. Und so erleben die beiden – und damit auch wir als Leser – ein grandioses Road-Movie voller abenteuerlicher Verwicklungen, mit ganz viel unterstreichenswürdigen Erkenntnissen über das Leben, die Liebe, die Schatten der Vergangenheit, die eigenen Ansprüche und die Ängste vor dem, was noch kommen wird.

Wenn ich einer dieser Blogger wäre, die die Bücher, die sie besprechen, gewissenhaft durcharbeiten, sich Notizen machen, bunte Post-its an Stellen mit bemerkenswerten Passagen kleben, könnte ich noch viele wunderbare Aussagen wie das oben Zitierte hier einfügen. Der Roman strotzt geradezu vor Zitierwürdigem. Da ich aber so einer nicht bin, kann ich hier nur aus dem ‚Lamäng‘ einen wie immer sehr persönlich gefärbten Gesamteindruck wiedergeben und muss detaillierte Belege schuldig bleiben.

Dafür ist mir beim Lesen dieses Romans etwas ganz anderes aufgefallen. Ich glaube, ich habe einen neuen Trend entdeckt. Und zwar einen Thementrend in der Gegenwartsliteratur. Den neuen heißen Scheiß nach der DDR-Nostalgiewelle, diversen Dystopien, allen möglichen Jung-Frauen-Ängsten, der Flüchtlingsthematik, sozialpolitischen oder größenwahnsinnigen Pamphleten und Covern mit Pflanzenmotiven. Nach meiner Einschätzung sind „fehlende Väter“ das neue literarische Top-Thema. Jetzt, wo es normal ist, dass junge Väter sich kümmern, in Elternzeit gehen, Windeln wechseln können, in Pekip-Gruppen rumsitzen, den Nachwuchs im Tragesack überall mit hinnehmen, erinnert man sich plötzlich an die Zeit, in der das alles nicht so war. Als die Männer noch kettenrauchend im Wartezimmer saßen, während ihre Frauen schreiend im Kreissaal entbunden haben. Männer, die Samstags das Auto wuschen, danach Sportschau guckten und Sonntags zum Frühschoppen gingen. Die sich nur in die Erziehung der Kinder einschalteten, drohend und sanktionierend, wenn die Frau mit ihrem Latein am Ende war. Die alle paar Wochen den Gürtel aus dem Bund zogen und dem Nachwuchs die längst fällige Tracht verabreichten. Die zwar irgendwie da waren, aber nie anwesend, der dunkle Schatten in jeder Familie, die strafende Instanz, die einen zwar liebte, aber es nicht so richtig zeigen konnte. Manche sind auch einfach abgehauen. Weg, ohne sich auch nur einmal noch umzudrehen, haben sich irgendwo ein neues Leben aufgebaut und einen Teufel um das geschert, was sie zurückgelassen haben. Bis irgendwann ein RTL-Kamerateam auftaucht und schöne Grüße ausrichtet, vom Sohn oder der Tochter, die das alte Arschloch so sehr vermissen.

Dieses Thema und was einen sonst noch so mit Mitte Vierzig durch den Kopf geht, behandelt der neue Roman von Lucy Fricke auf eine wirklich sehr eindrucksvolle Weise. Ich kann ihn nur wärmstens empfehlen.

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Foto: Gabriele Luger

Verlag: Rowohlt
240 Seiten, 20,00 €

11 Kommentare

  1. Vielen Dank für die tolle Rezension, bei der der Funke genauso schnell überspringt wie offenbar bei dem Roman, den sie vorstellt! „Töchter“ von Lucy Fricke werde ich lesen.

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  2. Lieber Tobias,

    das Buch lag schon bereit, aber dank Deiner wunderbaren Besprechung habe jetzt sofort damit angefangen. Und da ich einer dieser Blogger bin, die sich Notizen machen und nur mit dem Bleistift in der Hand lesen können, komme ich jetzt aus dem Markieren von Textstellen gar nicht mehr heraus. In der Tat ein ganz und gar großartiges Buch.

    Viele Grüße

    Uwe

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      1. Nein! Zum Glück nicht. Und wenn seitenweise „schöne Zitate“ angestrichen werden können, zeigt das (meist) nur eins: der Roman neigt zur Sentenz.

        Sorry, Tobias, aber mich schreckt Dein Blogtext eher ab und ich lasse dieses Buch lieber gleich liegen (womit nicht gemeint ist, dass Dein Text schlecht ist, sondern der Roman).

        lg_jochen

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