Last man reading #1

Die erste Frage lautet: Er oder Ich? Welche Erzählperspektive passt zu meinen Plänen? Mit dem alten Ich bin ich eigentlich immer gut gefahren. Es hat gepasst. Zu mir, zu dem was ich zu sagen hatte. War halt immer sehr persönlich. Aber nun steht mir der Sinn nach etwas mehr Distanz. Es soll ja auch etwas Neues werden, nicht das Übliche, Ausgelutschte, das tausendmal Gelesene, nicht das, was ich bisher hier so geschrieben habe.

Jetzt also Er. Dritte Person namenlos. Er ist mir ähnlich, aber nicht ich. Hier der Autor, da sein Protagonist. Niemand wird jemals erfahren, wieviel von wem im jeweils anderen steckt. Natürlich ist auch das altbekannt. Autoriale Camouflage, mit der Standardfrage auf dem blauen Sofa: Ist  das ausgedacht oder selbst erlebt? Aber das soll ihn jetzt nicht davon abhalten, das genauso durchzuziehen. Konsequent, zielstrebig, diszipliniert. So will er bei diesem Projekt sein.

Und guck mal an, da ist er auch schon: der namenlose Protagonist dieser Geschichte. Einer, der schon immer gerne gelesen hat. Nicht übermäßig, nicht exzessiv, aber doch regelmäßig. Je nach Lektüre und Tagesform so 50 bis 150 Seiten am Tag. Er hat das immer schon gemacht. Es tut ihm gut, ist so eine Art Therapie, versöhnt ihn irgendwie mit dem Leben.

Nicht, dass er irgendwie desillusioniert oder gar depressiv wäre. Zumindest wirkt er nicht so. Aber ohne Lektüre kann er nicht sein, wird irgendwann unleidlich, zieht sich zurück, wird immer leiser, bis er schließlich vollkommen verstummt. Keine Lektüre, kein Leben. Für andere ist das schwer nachzuvollziehen, denn kaum einer empfindet so bibliophil wie er. Kann man das so sagen? Eigentlich ist das nicht der richtige Begriff, niemand würde das jemals so nennen, das weiß er. Aber warum eigentlich nicht? Warum sollte man nicht bibliophil empfinden können? Je länger er darüber nachdenkt, desto passender findet er diese Begrifflichkeit. Beschreibt sie doch ziemlich genau, was Bücher ihm bedeuten. Er denkt und empfindet bibliophil und natürlich träumt er auch bibliophil, er hasst, liebt und lebt bibliophil. This boy is blibliotronic.

Absoluter Blödsinn, natürlich – aber ein schöner Blödsinn. Kaum einer liest noch, aber Bücher gehen trotzdem immer. Kein Suchtverhalten ist gesellschaftlich so akzeptiert wie die Sucht nach Büchern. Karl Lagerfeld hortete über 300.000 davon und obwohl ihn viele belächelt oder auch komplett abgelehnt haben – für diesen Spleen zeigte ihm keiner einen Vogel. Was wohl aus seiner Bibliothek geworden ist? Hat das alles auch die Katze geerbt?

Apropos — was soll eigentlich mal mit seinen eigenen Büchern passieren? Alles über Jahrzehnte mit sicherem Geschmack zusammengetragen und liebevoll kuratiert. Die ganze deutschsprachige Gegenwartsliteratur nahezu komplett, fast alles Erstausgaben, und noch dazu alle relevanten Klassiker oben im Retrozimmer. Das ist schon was wert. Oder sagen wir mal so: Ihm ist das was wert. Die Frage ist, wird das jemals jemand erkennen und wertschätzen, wenn er irgendwann nicht mehr da ist? Oder ist das dann nur noch ein Haufen Altpapier? Seine Frau wird sich kümmern. Sie weiß, was ihm die Bücher bedeuten. Wenn es soweit ist, wird sie eine Lösung finden. Ganz bestimmt. Und wenn nicht, bekommt alles der Hund.

Aber nochmal zurück. Warum eigentlich diese Sucht? Warum Bücher, warum Literatur? Eine einfache Antwort gibt es darauf nicht. Er braucht diesen Input: Geschichten über fremde Orte, fremde Menschen, fremdes Leben. Gedanken, die nicht seine sind. Wenn er seine tägliche Dosis davon bekommt, ist alles in Ordnung. Dann fühlt er sich leicht, aufgeladen und bereit für alles, was das Leben, sein Leben, von ihm verlangt. Und wenn nicht. Siehe oben.

Normalerweise macht er aus seiner Bibliomanie keine große Sache, hat keinerlei Sendungsbewusstsein, will keinen zum Lesen bekehren, niemandem erklären, was gute Literatur ist, seine Empfehlungen keinem aufdrängen. Wer unbedingt will, kann gerne weiter Serien bei Netflix schauen. Alles kann, nichts muss.

Und trotzdem macht er genau das. Er schreibt über die Bücher, die er gelesen hat, empfiehlt, rät ab, macht Listen, schreibt Briefe, feiert seine Helden. Er macht, was er eigentlich nicht will. Und doch ist es ihm ein Bedürfnis, das alles loszuwerden und gleichzeitig nicht zu verlieren. All die flüchtigen Leseeindrücke, seine assoziierten Gedanken, die vielen fremden Geschichten und Schicksale. Und vielleicht ist das ja auch das ultimative Erfolgsrezept: etwas nicht zu wollen, es aber trotzdem zu machen.

Sein Blog ist gut gefüllt. Wer will, kann dort stundenlang lesen. Über Literatur, Autorinnen und Autoren und ganz viel über ihn. Das bibliophile Tagebuch eines bibliophilen Lebens. Auch er selbst liest immer mal wieder rein und denkt dabei: klingt interessant, nachvollziehbar, ist nicht schlecht geschrieben.

Und wie sehr er das alles braucht, hat er im Sommer 2019 erfahren. Als er knapp zwei Monate nichts geschrieben hat, keine Rezension, keinen einzigen Post – zunächst aus purer Faulheit, denn er hatte Urlaub. Dann aber auch, um zu sehen, was passiert, wenn nichts passiert. Er wollte herausfinden ob irgendetwas fehlt, nicht nur ihm, sondern auch den anderen. Und tatsächlich – zwei treue Leserinnen fragten nach. Was denn los sei, warum nichts passiert auf den einschlägigen Kanälen. ‚Sommerpause‘ lautete die Antwort. Und doch ist das nur die halbe Wahrheit, denn er hat nicht nur viel gelesen, gehört und literarisch erlebt, er hat auch viel nachgedacht: über Bücher, Autoren und über sich. Aber das ist eine andere Geschichte, über die hier ein andermal berichtet wird.

2 Kommentare

  1. Lieber Tobias,

    ich freue mich, wieder von Dir zu lesen, wenn auch leicht verändert, in der dritten Person. Auf mich wirkt es ein bisschen künstlich und gewöhnungsbedürftig, aber egal, Du bist wieder aufgetaucht und ich bin gespannt, was Du in der letzten Zeit gelesen hast.
    Buchrevier ist seit langem mein Lieblingsbuchblog, die meisten Deiner Empfehlungen sind auch Bücher, die ich mag. Mir gefällt Dein Stil, die Fotos und die Gestaltung insgesamt und ab und an hab ich mich schon gefragt, wie Du es schaffst, Lesen, Schreiben, Gestalten, Geldverdienen und anderen Alltagspflichten unter einen Hut zu bringen.
    Ich bin jedenfalls beeindruckt und freue mich auf Deine letzten Leseeindrücke.
    Ich bin Leserin und Buchhändlerin, mag aktuelle Literatur und Krimis. Aktuell lese ich von Lola Randl Der große Garten, und würde das Buch gern zum heimlichen Bestseller unseres Buchladens machen.
    Mal sehen…
    Jedenfalls, ich bin froh, dass Dir nichts zugestossen ist oder Du keine Lust mehr hast, Dein Buchrevier weiterhin fleissig mit Kritiken zu füllen,
    bitte weiter so,
    herzliche Grüße

    Silke

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    1. Liebe Silke,
      Danke für die Blumen. Ich freue mich über so viel Zuspruch. Wohin mich die neue Reihe führen wird, weiß ich selber auch noch nicht. Bin gespannt, ob ich das mit ‚ihm’ lange durchhalte. 😉
      Herzlich: Tobias

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