Literarische Helden (5) – Martin Walser

 

Ja, ich weiß – nicht alle mögen ihn. Martin Walser polarisiert, sagt seine Meinung, ist im Laufe seines Lebens in diverse Fettnäpfchen getreten und hat sich durch so manch ungeschickte Polemik nicht überall Freunde gemacht. Aber ich liebe ihn trotz allem oder gerade deswegen umso mehr. Für mich ist er der letzte Großmeister der deutschen Literatur und zugleich der sprachmächtigste, tiefgründigste und auch produktivste deutsche Gegenwartsautor. Beinahe jedes Jahr kommt ein neues Buch von ihm auf den Markt. Und seit zehn Jahren denke ich, das könnte sein letzter Roman gewesen sein. Aber Martin Walser hört einfach nicht auf mit dem Schreiben.

Ich weiß gar nicht, wie viele Romane er bis jetzt geschrieben hat. Selbst eine Google-Suche führt auf den ersten zwei Seiten zu keiner konkreten Zahl. Ich schätze mal, inklusive der Novellen sind das so ca. 50. Ich selber habe 14 Bücher von ihm im Regal stehen. Nicht all seine Romane sind Meisterwerke – aber das ist auch kein Wunder bei diesem Pensum. Zu meinen persönlichen Favoriten zählen „Ohne einander“, „Ein fliehendes Pferd“ und mein Lieblingsbuch von ihm: „Der Lebenslauf der Liebe“. Das sind schon mal zwei Werke von Bedeutung mehr, als sein ewiger literarischer Marktbegleiter Günter Grass vorweisen kann, der ja bekanntlich nur ein einziges gutes Buch geschrieben hat.

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Aber auch wenn Walser nur einen durchschnittlichen Roman schreibt, dann ist dieser immer noch besser als vieles andere, was einem so an Belletristik tagtäglich in die Hände fällt. Denn Walsers Pfund ist seine unerreichte Sprachvirtuosität. Man taucht ein und badet in seinem Wortschatz. Immer wieder denke ich: Was muss das für ein Mensch sein, der Dinge, Empfindungen so benennen kann? Und wenn die Handlung noch so holpert und stolpert, seine Ausdruckskraft, die Schönheit seiner Wort- und Satzkonstruktionen, das alles entschädigt einen beim Lesen für so vieles und lässt mich immer wieder mit unendlicher Leichtigkeit, beseelt und reich beschenkt durch die Seiten gleiten. Keiner kann das, was Menschen zueinander und auseinander bringt, so beschreiben wie er. Das Kosige, das sich Sehnen oder wie er es nennt: „Gluten“ – das ist seine Sprache der Liebe.

Der Mensch in seinem Daseinsschmerz, die Liebe, das Leben und das Scheitern an beidem– das sind Martin Walsers ewige Themen. Man findet sie in all seinen Romanen. Die männliche Zerrissenheit, die Trauer über das Unmögliche. Oder das Schweigen zwischen Mann und Frau. Diese Mauer aus Nichtgesagtem, die immer höher wird und nicht einstürzen darf. Und zuletzt natürlich die alte Wunde: Der Deutsche und seine Verantwortung. Diese Fessel des Geistes, die uns immer zuerst Deutsch und dann erst Mensch sein lässt.

Im Bestiarium der Deutschen Literatur beschreibt der gute Fritz J. Raddatz meinen greisen literarischen Helden wie folgt: „Walser, der. Gehört zur Familie der großen Kormorane. Ein hochtalentierter Taucher und Fischer auf großen Seen, dessen langer Hals ihn zu schnellen Wendemanövern im Wasser befähigt. Im Unterschied zu anderen Tauchvögeln lassen Kormorane Wasser in ihr Federkleid eindringen…um nicht an die Oberfläche zu steigen, muss der Vogel daher stets eifrig mit den Füßen paddeln.“

Am 24. März wird Martin Walser 88 Jahre – ein stolzes Alter. Raddatz hat es nicht erreicht, nicht erreichen wollen. Man muss realistisch sein, viel wird da auch bei Walser nicht mehr kommen. Der große Wurf, noch einmal ein richtiger Jahrhundertroman – auch wenn er ihn tatsächlich noch schreiben würde, kräftig mit den Füßen paddelnd, man würde ihm die notwendige Anerkennung nicht mehr erweisen. Nach all dem Zank und Streit, nach der Friedenspreis-Rede, dem Tod eines Kritikers und dem Abgang bei Suhrkamp ist er durch, eine lahme Ente, die sich im Schilf verfangen hat.

Und gerade das macht ihn für mich zu einem meiner ganz großen literarischen Helden. Diese Tragik, diese Zerrissenheit, das Verzweifeln am Leben, den eigenen Ansprüchen, das Nicht-Genügen – kurz gesagt: dieser schrecklich schöne Daseinsschmerz. Das alles steckt in seinen Romanen und das alles steckt in ihm. Und irgendwann, vielleicht schon bald, wird das weg sein, wird es keinen neuen Walser-Roman mehr geben. Und die Welt wird ärmer und kälter.

 

7 Kommentare

  1. Drei Dinge:

    1. Noch nie etwas von Walser gelesen. Altherrenliteratur, dachte ich immer, reizt mich nicht im Geringsten. Offenbar ein schlimmes Versäumnis. Oder meinst du, das ist vielleicht tatsächlich ein Generationen- und Geschlechterding?

    2. Von Grass (oh, ebenfalls ein alter Herr) habe ich die Danziger Trilogie gelesen. „Katz und Maus“ fand ich etwas fad, aber „Hundejahre“ ist großartig und „Die Blechtrommel“ schlichtweg brillant. An „Die Rättin“ will ich mich irgendwann auch noch mal heranwagen, bisher hat sie mich gleich zweimal die ersten Seiten abgeschüttelt.

    3. Die Reihe ist klasse, ich stelle aber fest, dass ich selbst gar nicht so etwas machen könnte. Ich kenne nur von wenigen Autoren gleich mehrere Werke, aber ganz bestimmt von niemandem 14, und noch weniger haben mich durchgängig begeistert. Jonathan Safran Foer würde ich dazuzählen, aber sein Werk ist ja noch recht schmal. Und eines meiner allerliebsten Bücher stammt von David Grossman, ein anderes von ihm hat mich gelangweilt, seither traue ich mich an nichts mehr von ihm heran. Du siehst, ich tue mich schwer mit literarischen Helden. Vielleicht brauche ich aber auch einfach nur ein paar Jahre mehr Leseerfahrung.

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  2. Ich kann deine „Verehrung“ nachvollziehen, wenn auch mich der empfindsame Walser nie wirklich packte. Vielleicht hatte ich auch nicht so ein glückliches Händchen. Denn obwohl ich acht Bücher von ihm hier stehen habe, kann ich mich nur erinnern, vier davon überhaupt gelesen zu haben.

    „Dorle und Wolf“ sowie „Finks Krieg“ waren die ersten Versuche. Die Geschichten hatten mich nicht wirklich begeistert, aber – wie du auch schreibst – gab es immer wieder beeindruckende Sätze und Passagen, die einen dann doch fesselten. Nach diesen suchte ich und hangelte mich durch die Geschichten, um die Gedanken zu pflücken.

    Sein Goethe Roman und „Das dreizehnte Kapitel“ waren dann die beiden letzten Versuche einer Annäherung. Auch, weil ihn ein guter Freund ebenso schätzt wie Du und ich wiederum dessen Präferenzen in der Literatur oft teile. Doch auch hier wieder das gleiche: einzelne Passagen sind grandios, aber die Handlung und die Charakter sind mir denn doch zu fern. Ich ordne mich also meiner Ambivalenz zu Walser unter und erachte ihn dennoch als einen der Großen. Vielleicht versuche ich es bald noch mal mit deinem Favoriten.

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  3. Ich bin der Auffassung, Martin Walsers literarische Zeit ist seit vielen, vielen Jahren abgelaufen. „Ohne einander“ habe ich damals während meiner Buchhändlerausbildung gelesen, fand ich eher langweilig. Während des Studiums dann „Halbzeit“ lieben gelernt, ein Wahnsinnsbuch. Auch „Ein fliehendes Pferd“ sehr schön. Aber es gibt zahlreiche, neue Autoren, die Walser längst überholt haben. Ich kann nur zu den Frühwerken raten, alles, was in den letzten 30 Jahren von ihm veröffentlicht wurde, kann man sich schenken. Und Grass hat ein sehr schönes Buch mit dem Titel „Aus dem Tagebuch einer Schnecke“ geschrieben, in dem er seine Zeit als Wahlhelfer für Willy Brandt in Prosa fasst, nur so als Tipp. Viele Grüße, Gérard

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  4. Ihr habt alle recht, Caterina, Thomas und Gérard. Ich kann das alles nachvollziehen und denke zum Teil ähnlich. Stichwort: Altherrenliteratur – das ist zwar bitter und trifft auch mich wie ein Schlag in die Magengrube – aber aus der Sicht einer 30-Jährigen ist das wohl so. Es sind nun mal die Gedanken und Geschichten eines alten, mittlerweile wohl auch störrischen Mannes, dem das Leben immer ein wenig zu groß war. Es gibt so viele andere Stimmen in der Literatur zu entdecken, frische, unverbrauchte Talente, so wie Jonathan Safran Foer. Was soll man dann seine Zeit mit einem altgedienten Literaten verschwenden, über den das Feuilleton und die Kulturelite des Landes sowieso schon den Stab gebrochen hat?

    Gérard spricht es aus: Martin Walsers Zeit ist abgelaufen. Man muss ihn heutzutage nicht mehr gelesen haben, um mitreden zu können. Die letzten Romane sind auch ohne großes Marketing-Tam-Tam einfach so erschienen und sang und klanglos wieder verschwunden. Das bringt mich wieder auf den großen Fritz J. Raddatz, der in seiner Abschiedskolumne geschrieben hat, er wäre aus der Zeit gefallen. Das gilt wohl auch für Walser.

    Ich will diese Helden-Reihe auch nicht als Aufruf verstanden wissen, nach dem Motto: Lest wieder mehr Walser. Das ist meine ganz persönliche Rückschau auf Literaten, die mich in meinem Leben stark beeinflusst und nachhaltig begeistert haben. Wenn jemand aber dadurch trotzdem Lust auf Walser bekommen hat, dann freu mich natürlich und empfehle allen zum Einstieg den „Lebenslauf der Liebe“. Eine grandios traurige Liebesgeschichte, an die ich mich auch vierzehn Jahre nach der Lektüre noch sehr genau erinnern kann.

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    1. Ach, wieso sollte diese Reihe nicht auch zum Lesen verführen? Nur weil ich Walser bisher ignoriert habe, heißt das ja nicht, dass es so bleiben muss. Grass lese ich wie gesagt auch mit Gewinn (bzw. habe ich gelesen, die letzte Lektüre ist schon ein paar Jahre her). Es wäre ja schade, wenn wir immer nur die neuen, jungen, frischen Stimmen lesen würden.

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  5. Eine wunderbare Würdigung. Walsers Bücher haben auch mich begleitet, allerdings eher zwangsläufig. Er war auch auf der Lektüreliste beim Studium vertreten. Aus dem großen Dreigestirn Walser-Grass-Lenz mag ich vor allem den letzteren. Ich hätte Lenz gern einmal erlebt, leider war mir das nicht vergönnt.

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  6. An die lieben altern Herren. Als (noch) junge Frau kann ich Euch sagen, dass ich Herrn Walser und sein Werk in mein Herz geschlossen habe. Und das auf ganz freiwilliger Basis. Mein absoluter Höhepunkt war „Das dreizehnte Kapitel“ – trotz eines schwachen Endes. Aber wer das schriftliche Wort im allgemeinen und den Briefverkehr im Besonderen mag, wird diesem Buch verfallen. „Angstblüte“ würde ich nicht in die Hand nehmen. Das war mir schon bei einer Lesung mit ihm einfach nicht interessant genug. Ich habe ihn bereits mehrfach erlebt aber einfach genial war ein Auftritt vor Jahren in Leipzig als er sich vom Moderator nicht ernst genommen sah, stand er einfach auf und ging. Wunderbar. Man muss sich eben auch nicht alles als Autor gefallen lassen. Zu dieser Lesung stellte er „Ein liebender Mann“ vor und ich erinnere mich gut, wie viel Humor in seiner Art des Schreibens und des Rezitierens steckte.
    Vielen Dank für diesen emotionalen und interessanten Beitrag. Es wird Zeit mal wieder nach einem Walser zu greifen.

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