Reading man revisited

 

Gummibärchen mit Altbier. Es gibt für mich nichts, was so sehr mit Zuhause, mit Im- Sessel-Sitzen-Und-Lesen verbunden ist, wie diese eigentlich unmögliche Kombination zweier Genussmittel, von denen ich besser die Finger lassen sollten, wenn ich nicht noch mehr zunehmen will. Doch das ist mir egal. Die paar Kilos werde ich im Frühjahr schon wieder los. Aber ich liebe dieses Flüssige und Gummige, dieses Kalte und Laue, Herbe und Süße – Gegensätze, die sich harmonisch im Mund vereinen, ergänzen und diesen Geschmack ergeben – den Geschmack des Lesens.

Wie schmeckt für Sie Lesen? Niemand wird mich das je fragen. Aber wenn, dann würde ich sagen: Genau so! Wie Gummibärchen und Altbier. Wie Spielplatz und Kneipe. Unpassend, ungewöhnlich und ungesund. Aber ich kann nicht davon lassen. Ich stopf das in mich rein, acht Kalorien pro Bärchen und spüle ordentlich nach. Ich mach das einfach und denke gar nicht groß drüber nach. Das ist wie Seiten umblättern, wie Lesezeichen setzen, wie bemerkenswerte Sätze anstreichen – alles ganze normale Lesemoves.

Gleiches gilt für Kopfhörer auf und Musik an. Schön laut aufdrehen und alles um einen rum einfach wegwummern. Alle Sorgen, alle Eindrücke, den ganzen Alltag. Dann kommt irgendwann dieser Tunnelblick und es ist soweit. Ich kann mich einlassen, mich konzentrieren, fremdes Leben an mich ranlassen – lesen. Stundenlang und wenn das Buch mitspielt, auch mit wachsender Begeisterung. Das klappt nicht bei jeder Musik. Sie sollte sich nicht aufdrängen, nicht andauernd „Hier“ schreien, mir nichts beweisen wollen. Sollte einfach nur da sein, als Gefühlstransmitter, als Mauer zwischen dem Hier und Dort, meinem Leben und dem der anderen, zwischen Realität und Fiktion.

Genau wie der Sessel, auf dem ich sitze. Er ist einfach nur da, will kein Design sein, ist kein Hingucker. Will einfach nur, dass ich auf ihm sitze und lese. Er hat die besten Tage schon lange hinter sich, der Bezug aus den 90ern und abgewetzt, die Rückenlehne mit Kratzspuren von unserem alten Kater. Der ist jetzt auch schon 13 Jahre tot. Aber ich sitze hier immer noch und lese. Das macht mich traurig und gleichzeitig froh. Ich habe hier in diesem Sessel viel erlebt, bin einmal in Gedanken um die ganze Welt gereist, habe unzählige Menschen kennengelernt, habe mich verliebt, habe Schreckliches erfahren und süße Träume gehabt. Ich weiß, dass andere das vielleicht armselig finden. Second-Hand Experience – nichts Eigenes, alles nur gebrauchte Emotionen, aufgewärmt und fad.

Aber genau so will ich es haben. Lesen ist für mich leben. Ich entscheide, was ich von dem Gelesenen auch wirklich erleben möchte. Allzu viel ist es nicht. Eine Handvoll Gummibärchen und ein Altbier sind da oftmals wesentlich reizvoller.

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Foto: Gabriele Luger

4 Kommentare

  1. Absolut vergnüglicher Beitrag! Man möchte doch glatt auch einmal seine eigenen Lese-Begleiterscheinungen zugunsten von Altbier und Gummibärchen aufgeben. Einfach nur, um diese ungewöhnliche Kombination kennenzulernen. Welches Buch mag wohl dazu das ideale sein?
    lg, buchwolf

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    1. Aber bitte die Feinheiten beachten: Der original Buchrevier-Lesegeschmack entsteht nur mit den echten Goldbären und echtem Altbier vom Niederrhein. Also nicht irgendein Bier und irgendwelche Fruchtgummis. Bücher sind dagegen beliebig dazu kombinierbar.

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      1. Ah, danke für den Hinweis. Da muss ich also demnächst an den Niederrhein radeln, wie ich es seit Jahren schon vorhabe! Buch wird’s dann dort schon irgendeines geben 😉

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