Thomas Melle – Die Welt im Rücken

Das Erste, was mir beim Melle-Lesen auffiel ist, dass das ja ein bisschen wie Stuckrad-Barres Panikherz ist, nur besser, nur ohne Udo, ohne diesen ganzen Show-Biz-Kram, irgendwie noch abgefahrener und ehrlicher. Da lässt einer die Hosen runter, aber jetzt mal so richtig, ohne Rücksicht auf Verluste. Nicht wie Stuckiman, der schon beim Schreiben die entsprechende Premierenlesung mit Playlist und Gastauftritt von Udo und Konsorten im Hinterkopf hatte. Melle hat gar nichts im Hinterkopf. Melle will reinen Tisch machen. Diesen ganzen Psycho-Scheiß endlich hinter sich lassen. Es aufschreiben, sich freischreiben, die Meute sich jetzt noch einmal das Maul über ihn zerreißen lassen und dann war es das, dann ist er damit durch. So der Plan. „Wenn ich mich nämlich nicht freischreibe, bleibe ich stecken, das weiß ich, und meine Texte würden weiter von diesen Doppelgängern bevölkert und beschwert sein.“

Jetzt heißt es überall zunächst einmal: Was? Der Melle ist irre? Und ich so: Hab ich mir doch gleich gedacht. Und mein Über-Ich sofort: Ach komm, hör auf. Aber es ist tatsächlich wahr. „Die Welt im Rücken“ ist autobiografisch, Melle ist Melle und keine Romanfigur. Er hat das Versteckspiel satt und sagt es frei heraus: Ja, ich bin krank, manisch-depressiv oder neudeutsch: bipolar gestört. Und er ist es immer noch, wird das nie wieder los, kann keine Entwarnung geben, uns kein Happy End anbieten.

Wie das so ist, wie es einem damit geht, das beschreibt er in diesem Buch. Und das macht er so gut, so intensiv und literarisch bemerkenswert, dass er damit schon wieder für den Deutschen Buchpreis nominiert wurde. Auch diese Nominierungs-Meriten scheinen ihn wie seine Krankheits-Schübe immer wieder zu ereilen. Nach „Sickster“ in 2010 und „3000 Euro“ im Jahr 2014 jetzt also schon wieder. Warum? Weil Melle einfach ein unglaubliches Talent ist, sprachlich virtuos, ein hochintelligenter Kopf und einer, der etwas zu erzählen hat.

Und hier hat er es sogar vergleichsweise einfach gehabt. Er musste sich nichts ausdenken, nicht in Charaktere schlüpfen, sich nicht hinter ihnen verstecken. Er musste keinen Plot aufbauen, sondern einfach nur dem Durchlittenen eine lesbare Struktur geben. Und das ist die große Stärke dieses Buches, das sich nicht Roman nennt und trotzdem sehr gute Chancen hat, der beste des Jahres zu werden. Es ist einfach schonungslos offen, ehrlich und authentisch. Ich ziehe meinen Hut vor so viel Mut, die Bereitschaft, auch das Intimste preiszugeben; die manischen Höhenflüge mit allen Peinlichkeiten, Arroganz- und Wutanfällen, sowie die tiefen Abstürze ins schwarze Loch der Depression.

Ich finde, es ist noch etwas anderes und wesentlich schwerer zuzugeben, dass alles aus einem selber kommt und nicht die Folge irgendeines Drogenmissbrauchs ist. Stuckrad-Barre hatte in seiner Panikherz-Drogenbeichte eine Exit-Option, konnte sich jederzeit von sich selber distanzieren und sagen: ‚Das bin nicht ich, das hat die Droge aus mir gemacht. Aber jetzt bin ich clean, alles ist vorbei‘. So eine Exit-Strategie gibt es für Thomas Melle nicht. Weder im Buch noch im wirklichen Leben. Das, was er da beschreibt, ist immer er, er und die Krankheit, beide untrennbar miteinander verbunden. Er ist die Krankheit und die Krankheit ist er. Als das ist er jetzt bekannt. Biopolarität wird der Literaturbetrieb zukünftig mit seinem Namen verbinden. Und dann heißt es vielleicht auf irgendeiner Lesung: Du, der Melle guckt so komisch. Ob er wieder einen Schub hat?

All das wird Thomas Melle vermutlich durch den Kopf gegangen sein, als er sich entschieden hat, dieses Buch zu schreiben. „Da muss ich, da will ich jetzt durch“, wird er sich gedacht und insgeheim geschworen haben, es so intensiv und bemerkenswert zu machen, dass manche Autoren bereit wären, ihr Schicksal mit seinem zu tauschen, wenn sie nur auch so ein Werk schaffen könnten.

Und genau so ist es geworden. Ich habe dieses Buch wie im Rausch innerhalb eines Wochenendes durchgelesen, habe Melle mit wachsender Begeisterung durch alle mentalen Berge und Täler begleitet, mir mehr als die Hälfte des Buches laut vorgelesen, um den Flow und den einzigartigen Sprachrhythmus noch intensiver zu erleben und das Buch am Ende tief beeindruckt aus der Hand gelegt.

Auch wenn ich erst zwei Titel von der diesjährigen Longlist gelesen habe: Melle ist jetzt schon mein absoluter Favorit auf den Titel. Und wenn ich mir das Autorenfoto im Umschlapklapper anschauen, dann habe ich das Gefühl, er rechnet selber auch damit. Oder warum guckt er sonst so komisch?

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Foto: Gabriele Luger

Verlag: Rowohlt Berlin
352 Seiten, 19,95 €

Auch Sophie Weigand vom Blog Literaturen hat diesen Titel besprochen und war begeistert.

4 Kommentare

  1. Ein bißchen habe ich wieder Schwierigkeiten mit Ihren auf mich oft etwas überheblich wirkenden brillanten Schreibstil, mit dem Sie über die gelesenen Bücher drüberfahren und Ihre Wünsche, daß kürzer, was anderes oder überhaupt nicht mehr geschrieben wird, ausdrücken!
    Denn das mag bei einem Roman vielleicht so angehen, wenn ich mir das Buch um zwanzig Euro kaufe, kann ich vielleicht verlangen, daß Martin Walser endlich etwas anderes, als über seinen unerfüllten Sex schreibt oder ein anderer Autor mit dem „ganzen Psychoscheiß“, den ich, weil ich ja gute Literatur lesen möchte, nicht haben will!
    Bei Thomas Melles Outing, Memoir oder Personal Essay, würde ich das Buch nennen und keinen Roman, denn das ist es wohl wirklich nicht, ist das wohl schwieriger und da liegt wohl auch das Dilemma, der Verlage bei der Frage, ob man diesem Buch jetzt den deutschen Buchpreis geben soll und muß?
    Man sollte ihm einen Preis geben, denn es ist ein großartiges Buch, hat, glaube ich Sophie Weigard http://literatourismus.net/2016/09/thomas-melle-die-welt-im-ruecken/ geschrieben und dem kann ich mich nur anschließen, aber es ist kein Roman und kann der daher auch nicht der beste des Jahres werden, sondern ist wahrscheinlich als Pflichtlektüre für alle angehenden Psychiater, Psychologien, etcetera geeignet und zu empfehlen, aber die sollen dann auch keinen Roman, sondern Fachliteratur lesen und ein Personal Essay ist wohl auch eine gekonnte Mischung daraus und wenn man dann noch gut schreiben kann….
    Deshalb habe ich auch mit Ihren Vergleichen mit Stuckrad- Barre, dessen „Panikherz“ ich nicht gelesen habe, Schwierigkeiten, denn einen Personal Essay oder einen Bericht über die eigene bipolare Krankheit kann und soll man wohl auch nicht mit einem Roman vergleichen. Denn da würde es schon schwierig und wahrscheinlich erst recht verwirrend werden!
    Ansonsten bin ich aber mit Ihnen d`accord, daß das ein ausgezeichnetes Buch ist und freue mich, daß es Ihnen gefällt!

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