Jonas Lüscher – Kraft

 

Früher als Kinder haben uns wir ständig solche Fragen gestellt: Für wieviel würdest du mit nackten Beinen durch Brennnesseln gehen, in den kalten Bach springen, einen ganzen Teller Rosenkohl essen? Je nachdem, wie unvorstellbar eklig oder schmerzhaft irgendetwas war, hieß es dann: Für eine Million würde ich es machen. Was soviel bedeutete wie: niemals. In den Neunzigern gab es dann mit dem Hollywood-Blockbuster „Ein unmoralisches Angebot“ eine Adaption dieses Spielchens für Erwachsene. Demi Moore bekam eine Million für etwas geboten, wofür andere Frauen ohne zu zögern sofort ihr Sparbuch geplündert und alles hergeben hätten: eine Nacht mit Robert Redford. Und jetzt hat Jonas Lüscher das Thema für die Intellektuellen im Lande aufbereitet: eine Million Dollar für die Antwort auf die Frage: weshalb alles, was ist, gut ist und wir es dennoch verbessern können.

Ich hätte jetzt spontan geantwortet: Weil etwas, das nicht gut ist, gar nicht erst wäre und der Drang, Dinge andauernd verbessern zu wollen, der menschlichen Hybris geschuldet ist. Aber mich fragt ja keiner, und für so eine banale Antwort gäbe es auch keine Million Dollar. Nein, das muss in diesem Fall schon etwas philosophisch fundierter daherkommen und deshalb stellt sich auch der Tübinger Rhetorik-Professor Richard Kraft dieser Frage, um die vom us-amerikanischen Internet Millardär Tobias Erkner ausgelobte Prämie einzuheimsen. Geld, das Kraft dringend braucht, um sich nach zwei gescheiterten Ehen seine Freiheit zurückzukaufen. Denn – auch das lernen wir hier – ein vergleichsweise üppiges Hochschulprofessoren-Gehalt reicht nicht aus, um zwei anspruchsvollen Ex-Frauen und vier Kindern gerecht zu werden.

Der Roman kam in diesem Frühjahr raus und ist eigentlich schon durch. Er wurde viel gelobt und oft besprochen und gilt allgemein als die wichtigste Neuerscheinung dieses Bücherfrühlings. Normalerweise ist es nicht mein Ding, da jetzt ins gleiche Horn zu tuten und die dreihundertste Meinung beizusteuern. Doch das Buch hat mich immer wieder angelächelt, und als es jetzt als Lizenzausgabe bei der Büchergilde erschien, habe ich zugegriffen und bin sofort eingestiegen.

Im Prinzip ist dieser Roman das perfekte Buch. Denn hier wird mir all das geboten, weswegen ich so gerne lese. Ich tauche gerne in Geschichten ein, lasse mich vereinnahmen und fesseln. Das gelingt Lüscher bereits auf den ersten Seiten. Locker und erzählerisch gekonnt führt er uns in die philosophische Thematik und die Welt seiner intellektuellen Protagonisten ein. Nichts ist, wie zunächst befürchtet, schwer oder sperrig. Ganz im Gegenteil, es liest sich locker und unterhaltsam. Und mit dieser Leichtigkeit führt uns Lüscher auch zu den komplexeren Überlegungen, die Richard Kraft unternimmt, um der Preisfrage gerecht zu werden. Und jeder, der gerne liest, um über sich, die Welt und das, was sie zusammenhält, mehr zu erfahren, kommt hier ebenfalls voll auf seine Kosten. Auch wenn ich Kraft bei seinen mitunter langatmigen Überlegungen nicht immer folgen konnte, so habe ich mich doch mit großer Freude dieser Aufgabe gestellt und einiges für mich herausgezogen.

Und dann sind da noch die Charaktere, die aus einer Ansammlung von Überlegungen und Theorien erst einen richtigen Roman machen. Kraft und sein Studienfreund Ivan, die gescheiterten Beziehungen zur mütterlichen Ruth, der schweigsamen Johanna und der spöttischen Heike. Die vier Kinder, die Stanford-Elite-Studenten, der egozentrische Milliardär. Lüscher braucht nicht viel Raum, um seine Figuren zu skizzieren. Im Zentrum natürlich die Hauptfigur, Professor Dr. Dr. Richard Kraft, angesehener Wissenschaftler, Nachfolger des legendären Walter Jens auf dem Tübinger Rhetorik-Lehrstuhl. So respekt- und ehrfurchtgebietend seine gesellschaftliche Stellung auch ist, so jämmerlich kommt der Professor als Mensch daher. Eine tragische Figur, die trotz aller Begabung und intellektueller Fähigkeiten am Leben gescheitert ist. So etwas authentisch und ohne Brüche darzustellen, ist schon eine große Kunst, braucht viel Einfühlungsvermögen, Know-how und erzählerisches Talent.

Und als letzten Aspekt möchte ich noch den Kontext erwähnen, der dieses Werk zu einem für mich perfekten Roman macht. Die Geschichte bewegt sich auf einer Zeitachse von den frühen Achtziger Jahren bis heute; beleuchtet die unterschiedlichen Strömungen der Bonner Republik über die Zeit der Wende bis jetzt. Der Sturz der Regierung Schmidt, die lange Ära Kohl, die Hoffnungen und Enttäuschung durch Schröder. Ich bin nie politisch besonders aktiv gewesen, aber wenn überhaupt, dann genau in dieser Zeitspanne. Auch ich habe in den Achtzigern an der FU Berlin studiert, die linksalternative Studentenschaft erlebt und kann mir gut vorstellen, wie Typen wie Kraft und Ivan mit ihren konservativ, wirtschaftsliberalen Ansichten ausgegrenzt wurden.

Und so habe ich das Buch am Ende zugeklappt und mich gefreut, dass alles, was darin ist, gut ist, obwohl ich an der einen oder anderen Stelle durchaus noch Verbesserungspotenzial sehe.

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Foto: Gabriele Luger

Verlag: C.H. Beck / Büchergilde (liz.)
237 Seiten, 19,95 €

2 Kommentare

  1. Da muss ich gleich ins selbe Horn blasen und die Besprechung meiner Mittäterin auf dem Feinen Buchstoff verlinken 😉
    https://feinerbuchstoff.wordpress.com/2017/05/22/viel-kraft/
    ich hoffe, das ist okay – sie hat mir kraft so schmackhaft gemacht, dass ich, als ich die Gelegenheit hatte, Jonas Lüscher bei einer Lesung zu erleben, diese spontan ergriffen habe. Und was soll ich sagen – meine anfängliche Skepsis war wie verlogen. Ein großartiger tragischer Held, unsympathisch bis zum geht nicht mehr … und ich litt mir ihm. Noch habe ich mir das Schätzchen aufgehoben, denn ein Buch, das so gut ist, ist für mich nie „durch“ – egal, in welchem Programm welchen Jahres es erschien. Denn gute Literatur hat kein Verfallsdatum. Schön, dass sie hier noch mal angesprochen wurde. LG, Bri

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