Die Guten ins Köpfchen, die Schlechten ins Kröpfchen

Gesammelte Kurzrezensionen. JETZT NEU: mit Sternchen-Bewertungen

 

Miku Sophie Kühmel – Kintsugi

Familienromane sind momentan wieder der neue heiße Scheiß im Buchmarkt. Noch heißer und angesagter sind nur noch Familiengeschichten, die nicht dem klassischen Rollenbild entsprechen. So wie im Debüt von Miku Sophie Kühmel, mit dem sie aus dem Stand auf der Longlist des Deutschen Buchpreises gelandet ist. Die Protagonisten dieses kleinen Familienromans sind ein mittelaltes schwules Paar, der eine Hochschulprofessor, der andere Künstler. In der Abgeschiedenheit eines Brandenburger Ferienhauses am See wird ihnen von der Autorin ein alleinerziehender bisexueller Pianist und seine mittlerweile erwachsene Hetero-Tochter hinzu gesellt. Fertig ist ein kompliziertes Wochenend-Szenario-Beziehungsflecht der queeren Art. Kühmel macht das gut, hat einen sehr souveränen Erzählstil, gibt den vier Personen genügend Raum, sich zu entfalten.

Doch man muss sich schon auf dieses sehr enge Beziehungsspiel einlassen, denn außer den Verflechtungen der vier handelnden Personen untereinander, Liebe und Leid, Rückblicke auf glänzende Erfolge und solide Bodenständigkeit, Spannungen und Beziehungsbrüchen, passiert auf den knapp dreihundert Seiten nicht viel. Literarisch ist das ohne Frage auf einem hohem Niveau, aber mich hat die Lektüre stellenweise doch sehr gelangweilt, so dass ich die letzten hundert Seiten nur noch que(e)r gelesen habe. Genau das passiert mir bei Buchpreis-Kandidaten sehr häufig, und daher könnte ich mir vorstellen, dass der Roman beim dbp sehr gute Chancen hat, eine Runde weiter zu kommen.

3,5 von 5 Sternen

Dana von Suffrin – Otto

Hier haben wir den klassischen Fall eines Buches, das fulminant startet, irgendwann in der Mitte stark nachlässt und am Ende in quälenden Erzählschleifen ausplätschert. So zumindest habe ich die Lektüre dieses Debütromans empfunden, der – wie soll es auch momentan anders sein – eine Familiengeschichte erzählt. Auch hier steht keine klassische deutsche Durchschnittsfamilie, sondern eine mit Migrationshintergrund und jüdischem Glauben im Mittelpunkt. Ein manipulativ despotischer Patriarch, der seit Jahren im Sterben liegt, sich aber immer wieder aufrafft und das Leben seiner Töchter beschwert. Am Anfang fand ich das Setting ganz spannend und auch die Vita des aus Siebenbürgen stammenden Juden Otto hat mich interessiert. Die Art, wie er seine Töchter in die Pflicht nimmt, dieses Wechselspiel aus Zuckerbrot und Peitsche; sein Geiz, seine Wehleidigkeit, der Stolz, die Arroganz und auf der anderen Seite der Familiensinn und die Liebe zu seiner Lieblingstochter. Das alles wird auf den ersten hundert Seiten sehr schön skizziert, so dass man Lust auf mehr davon bekommt. Aber dann fängt von Sufrin an, in vielen assoziativen Rückblenden die Familiengeschichte nachzuerzählen, und ab da verliert der Roman massiv, wird zäh und langweilig. Auch hier habe ich auf den letzten fünfzig Seiten nur noch hier und und da einen Absatz gelesen und habe das Buch am Ende schwer enttäuscht zur Seite gelegt.

3 von 5 Sternen

Charles Lewinsky – Der Stotterer

Ich habe sehr gerne den Vorgängerroman Kastelau gelesen. Ein Buch, das ich noch in guter Erinnerung habe. Eins aus der Rubrik anspruchsvolle Unterhaltung. Das habe ich auch hier erwartet – auch wegen Diogenes – und wurde leider enttäuscht. Was ich bekam, war eine an den Haaren herbeigezogene Geschichte, einfallslos an einer sehr naheliegenden Idee entlang konstruiert. Alles wirkt so, als wenn Lewinsky Wochen nach einer Idee für den nächsten Roman gesucht hat und nach diversen Brainstorming-Sitzungen endlich den ultimativen Einfall hatte. Warum nicht eine Geschichte über jemanden schreiben, der nicht gut sprechen kann – weil Stotterer – aber dafür umso besser schreiben? Gibt es das eigentlich schon? Nein? Na, dann mal los. Was braucht man dafür? Einen Protagonisten mit einer schweren Kindheit, Missbrauch, religiösen Fanatismus; egal, Hauptsache ein ordentlich hartes Schicksal, das einen natürlich irgendwann ins Gefängnis bringt. Denn jeder weiß: Hast du erstmal Scheiße am Schuh, wirst du das so schnell nicht mehr los. Und so schreibt er sich einen zurecht. Der Protagonist im Roman sowie Lewinsky. Und weder dem einen noch dem anderen gelingt es, mich mit seinem Geschreibsel zu überzeugen. Vielleicht liegt es ja daran, dass man für einen Roman über jemanden, der besonders gut schreiben kann, auch selber besonders gut schreiben können sollte.

2 von 5 Sternen

Haruki Murakami – Die Ermordung des Commandatore Teil 2. Eine Metapher wandelt sich.

Eigentlich diskutiere ich ja nicht über Murakami. Ich habe gelernt, dass das nichts bringt, denn entweder ist man Fan oder eben nicht. Diesen Autor kannst du nicht schön reden. Wenn einer das, was ich beim Lesen seiner Werke empfinde, nicht auch nur ansatzweise fühlt, dann kannst du dir alle Argumente sparen. Das ist wie Musik. Entweder sie gefällt, geht in den Bauch, trifft dich ins Herz, bringt etwas in dir zum Klingen, oder eben nicht. Mir ist Murakami vor vielen Jahren in einer schwierigen Lebensphase zum ersten Mal über den Weg gelaufen. Ich fühlte mich verstanden, seine Romane haben mich aufgefangen, mir Trost gegeben. Und seither ist er einer meiner Helden, auf den ich eigentlich nichts kommen lasse. Doch nach den beiden Bänden vom Commandatore muss ich leider sagen, dass ich etwas ernüchtert bin. Den ersten Teil habe ich noch klassisch gelesen, Band 2 dann als Hörbuch gehört. Und beim Hören sind mir auf einmal Dinge aufgefallen, die ich beim Lesen so noch nie wahrgenommen habe. Beispielsweise äußerst naive Satzkonstruktionen, nervige Wiederholungen und ein Plot auf Kindergartenniveau. Und plötzlich bin ich sehr verunsichert. Das Denkmal steht schief auf dem Sockel, und ich kann mich gar nicht lassen, fühle mich irgendwie illoyal und undankbar. Ich schlage vor, wir lassen das einfach mal so stehen und warten auf das nächste Buch.

3 von 5 Sternen

Leila Slimani – All das zu verlieren

Dieses Buch hat mir sehr gut gefallen, so wie auch schon der Vorgängerroman von Leila Slimani. Sie hat einfach eine sehr eindringliche Art, traumatische Beziehungsdramen zu skizzieren und ihre Leser daran teilhaben zu lassen. Am Ende ihrer Romane hat man stets das Gefühl, man wäre in einen Verkehrsunfall verwickelt gewesen. Aufgewühlt, mit pochendem Herzen, verwirrt und geschockt bleibt man zurück. Und trotz dieses starken Gefühls und aller Begeisterung weiß ich nicht, wie und was ich darüber schreiben sollte oder möchte. Und zwar in meiner Rolle als Mann, der in diesem Jahr bereits den vierten Roman einer weiblichen Autorin gelesen hat, in dem es sehr explizit um Sex geht. Sex, wie ihn laut landläufiger Meinung und laut 95 Prozent der mir bekannten Literatur vorwiegend Männer haben. Spontan, wahl- und zügellos, ohne zärtliche Gefühle oder gar Liebe. Sex, dessen Schilderung zu keinem Punkt auch nur ansatzweise erotisch ist, der als Ersatz für irgendetwas anderes herhalten muss. Um eine Leere zu füllen oder vor etwas zu flüchten. Das ist natürlich vollkommen substanzlos und nichts als Küchenpsychologie, zeigt aber sehr gut, wir sehr mich das Schicksal der Protagonistin Adele berührt und verwirrt hat. Was für ein starkes Buch, was für eine grandiose Autorin!

4,5 von 5 Sternen

 

Colson Whitehead – Die Nickel Boys

Ich finde es gut, wenn ein Autor sein Thema gefunden hat. Man kann sich als Leser einstellen, weiß was einen erwartet, erlebt keine bösen Überraschungen. Colson Whiteheads Thema ist die Geschichte der afroamerikanischen Bevölkerung in den USA: Sklaverei, Unterdrückung und Alltagsrassismus. Nach „John Henry Days“ und „Underground Railroad“ ist dies der dritte Roman, den ich von Whitehead gelesen habe. Und wieder ist es eine ans Herz gehende Geschichte, fiktiv, mit erfundenen Charakteren, aber nach einer wahren Begebenheit. Das Nickel, eine Besserungsanstalt für Jungen, in denen insbesondere die farbigen Jungs misshandelt und auch getötet wurden, hat es tatsächlich in den USA gegeben. Erzählt wird die Geschichte von Elwood, einem intelligenten und eigentlich kreuzbraven Jungen, der beim Trampen in den falschen Wagen eingestiegen ist und als Autodieb im Nickel landete. Es gibt zahlreiche Zeitsprünge und unterschiedlich interessante Einzelschicksale, die den Erzählfluss etwas zäh gestalten, aber insgesamt ist dies wieder ein sehr empfehlenswerter Roman des routiniertesten Chronisten der afroamerikanischen Bürgerrechtsbewegung.

3,5 von 5 Sternen

 

Gary Shteyngart – Willkommen in Lake Success

Ja, so sind sie wohl – die Amerikaner. Gary Shteyngart gelingt in seiner derzeit vielbeachteten Investmentbanker-Road-Novel ein wunderbar vielschichtiges und aktuelles Psychogram einer gespaltenen Nation. Hier die Kapitalisten, Materialisten, Trumpisten und Hedonisten und auf der anderen Seite die, die daran nicht teilhaben können, wollen oder andere Ziele im Leben verfolgen. Viel scheint sich nicht verändert zu haben. Als ich in den Achtzigern mal zwei Monate drüben war und wie Barry Cohen, der Held dieses Romans, auch viel mit dem Greyhound gereist bin, habe ich es ähnlich empfunden. Ich habe sehr aufgeschlossene, weltoffene, aber auch sehr oberflächliche und bornierte Menschen kennengelernt, unvorstellbaren Reichtum und schockierende Armut gesehen, inspirierende Multi-Kulti-Viertel kennengelernt und dann wieder Ghettos, die man als Weißer besser nicht betritt.

An all das musste ich denken, während ich Barry Cohen, dem tragischen Helden von „Willkommen in Lake Success“, auf seiner Reise, bzw. Flucht durch die USA lesend begleitete. Und dass Barry nach all den Erlebnissen am Ende kein anderer Mensch und keinen Deut besser geworden ist, sondern diese Episode in seinem Leben nur benutzt, um lediglich so zu tun als ob, ist nicht nur bitterböse, sondern in meinen Augen auch typisch amerikanisch. Fazit: ein großer und gleichzeitig großartiger Amerika-Roman, dessen Lektüre ich sehr empfehlen kann.

4 von 5 Sternen

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Foto: Gabriele Luger

 

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