So ist das wohl, wenn man alt wird – man liest in einem Buch über eine Zeit, die man selber miterlebt hat und denkt: ist ja noch gar nicht so lange her. Denn im Kopf ist alles immer noch sehr präsent, die Erinnerungen lebendig und farbenfroh. Und dann sieht man Fotos aus dieser Zeit und wie die Orte von damals jetzt aussehen – man erschrickt, rechnet noch mal nach und fühlt sich schlagartig nicht nur so, sondern ist es auch: unsagbar alt.
Ich habe in der Zeit des Mauerfalls in Berlin gelebt und die Vor- und Nachwendezeit hautnah miterlebt. In Gedanken sehe ich mich noch immer mit meiner roten Vespa durch Ostberlin (sic) fahren, im Sommer 1990 mit Vollgas über den ehemaligen Todesstreifen und danach Fußball gucken auf der Museumsinsel, wo das erste Public Viewing zur Fußballweltmeisterschaft aufgebaut war. Und als die Deutschen dann tatsächlich Weltmeister wurden, ungläubig und euphorisch im hupenden Auto-Corso auf dem Ku’damm. Und natürlich bin ich damals auch durch die Oranienburger gefahren, habe mir das Tacheles und die Nutten mit ihren bunten Glitzer- Leggins angeschaut — einer der Schauplätze von Lutz Seilers grandiosem Nachwenderoman Stern 111.
Normalerweise kämen jetzt hier ein paar Infos zur Romanhandlung, aber das überlasse ich lieber dem Autor, der das in dem unten verlinkten Video sehr sympathisch und anschaulich erledigt. Nur soviel: Es gibt zwei Handlungsstränge, die Geschichte von Walter und Inge Bischoff und die Geschichte ihres gemeinsamen Sohns Carl. Die Eltern packen am zweiten Tag nach Maueröffnung ihre Wanderrucksäcke und machen sich auf in den Westen, während der Junior (zunächst) als Nachhut im Elternhaus in Gera verbleibt. Das allein schon – die Alten sind mutig und stürzen sich ins Ungewisse, die Jungen bewahren und halten die Stellung – ist so verkehrte Welt und trotzdem irgendwie symptomatisch im aktuellen Generationenkonflikt.
Mehr will ich dazu gar nicht sagen, trotzdem hat mich gerade dieser Aspekt sehr beschäftigt. Zum einen, weil ich damals in der Nachwendezeit ungefähr so alt war, wie Seilers Protagonist Carl Bischoff, zum anderen, weil ich heute ungefähr so alt bin wie Carls Eltern Inge und Walter damals waren und weiß, wie schwer die Last von fünfzig Jahren Leben auf den Schultern wiegen. Ich kann beide Seiten verstehen, mich voll und ganz identifizieren, wobei ich aus jetziger Sicht eine starke Sympathie-Präferenz für die ältere Generation habe. Mich würde mal interessieren, ob ich das damals, also vor ungefähr dreißig Jahren, auch so empfunden hätte. Ob ich dann nicht eher mit dem Gedichte schreibenden und sich ansonsten treibenlassenden Carl sympathisiert hätte. Ich glaube schon, denn auch wenn ich mit Carl wenig gemeinsam habe, Gedichte habe ich auch geschrieben.
Aber lassen wir diesen persönlichen Vergleich. Genauso wenig möchte ich hier die sehr naheliegende Frage nach Bezügen zur Autobiografie des Autors stellen, obwohl die erzählte Geschichte zweifelsohne viele Parallelen zum Leben von Lutz Seiler hat . Die Orte in dem Roman gibt es, die Eltern aus Gera und wahrscheinlich auch den russischen Schiguli. Man darf also nach Herzenslust spekulieren, ob Lutz Seiler hier tatsächlich seine eigene Geschichte erzählt und rätseln, was er weggelassen und was er dazu erfunden hat. Ein müßiges Unterfangen, weil im Prinzip jede erzählte Geschichte, egal ob real oder fiktiv, erst dann gut und authentisch ist, wenn sie ein Autor in sich aufgenommen und zu seiner eigenen Geschichte gemacht hat. Wenn sich Fiktion und Realität in seinem Inneren vermischen und ein Roman entsteht.
Ich habe Stern 111 jeweils zur Hälfte gelesen und zur Hälfte als Hörbuch gehört. Das Hörbuch liest Lutz Seiler selbst, und die Art, wie er seinen Roman liest, macht sehr schön deutlich, worum es ihm neben der zu erzählenden Geschichte in erster Linie geht. Um die Komposition des Textes, die Akustik des geschriebenen und gesprochenen Satzes, einen ganz speziellen Sound, den Takt, den auch sein Protagonist Carl – wie Seiler ein Lyriker – beim Schreiben seiner Gedichte braucht und den er durch das rhythmische Schlagen eines Werkzeugs auf den Handballen erzeugt. Der ganze Roman ist nach diesem Schema gestaltet, geradezu durchkomponiert. Jeder Satz folgt einer Melodie, die mit dem Erzählten korrespondiert, es begleitet, ergänzt und erhöht. Nichts stört, alles ist rund, stimmig und harmonisch. Als Leser kann man sich wohlig in ein Bett aus Worten fallen lassen und der vielschichtigen Handlung lauschen.
Die oftmals autobiografische Sicht auf einen im Werden begriffenen Autor, so ein poetisches Coming-of-Age, ist ja ein ziemliches häufig bedientes Motiv in der Literatur. Der Dichter im Kampf mit sich selbst, auf der Suche nach seinem Thema, einem eigenen Stil und dem Sinn seines Tuns – derartige Erzählungen finden sich in nahezu allen Epochen.
Von der sprachlichen Intensität, einzelnen Plotfragmenten und vor allem von der Erzählstimme her, hat mich „Stern 111“ einerseits stark an Jörg Fausers „Rohstoff“ aber auch an Thorsten Nagelschmidts „Der Abfall der Herzen“ erinnert. Jeweils unterschiedliche Dekaden – Fausers Protagonist Harry Gelb ringt Ende der Sechziger, Seilers Carl Bischoff Ende der Achtziger und Nagels alter Ego Ende der Neunziger nach Worten – doch auch, wenn die zeitgeschichtlichen Umstände immer wieder andere sind – scheitern tun alle drei schreibenden Romanhelden letztlich an nichts anderem, als an sich selbst.
Und seien wir ehrlich: Ist es nicht das, was wir gerne lesen wollen? Geschichten vom schönen Scheitern, der schier unerreichbaren Kunst, ein kreatives und zugleich erfülltes Leben zu führen. Vom Straucheln, Hinfallen, Wiederaufstehen, der ständigen Wiederholung, dem Nichtaufgeben – immer und immer wieder, bis dieses Elend selbst zur Kunstform wird. Das Ganze braucht man dann nur noch in Worte zu packen, Sätze zu formen und melodisch durchtakten – vorzugsweise mit leichten, rhythmischen Schlägen eines beliebigen Werkzeugs auf den Handballen.
Wenn es tatsächlich so einfach wäre, ich würde es machen.
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Verlag Print: Suhrkamp
528 Seiten, 24,00 €
Hörbuch: Der Audio Verlag
Gelesen vom Autor, Länge: 18h, 28 min
Hörprobe
Sehr empfehlenswertes Autorenvideo: Lutz Seiler und die Schauplatze seines Romans.