Es war keine gute Idee, dieses Buch jetzt in dieser Zeit zu lesen. Nein, das hätte ich mal lieber sein gelassen. Ganz ehrlich? Ich habe Angst. Da ist so ein unangenehmes Gefühl in der Magengegend, etwas, was mir sagt, dass ich da nicht nur irgendeine gut gemachte Dystopie gelesen habe, keinen dieser unzähligen Romane, in denen Menschen unterdrückt werden, sterben und die Welt ihr vertrautes Gesicht verliert. Nein, hier hatte ich beim Lesen das Gefühl, als schaute ich aus dem Fenster, auf das, was hier gerade direkt vor meinen Augen passiert. Kein wohliger Schauder beim Zuklappen nach der letzten Seite, keine Freude darüber, dass das ja nur eine fürchterliche Geschichte sei, dass so etwas nie und nimmer in meinem Leben passieren könnte. Nein, diesmal nicht. Man legt das Buch weg, aber die Beklemmung bleibt.
Dabei war es gar nicht mal die aktuelle Krisenlage, die mich zu diesem Buch gebracht hat. Es war vielmehr eine Dokumentation auf ARTE über das Leben von Margaret Atwood, einer Autorin, die für mich seit jeher eher uninteressant war und von der ich folglich auch noch nie etwas gelesen habe. Und natürlich gab es für dieses Desinteresse keine auch nur ansatzweise nachvollziehbare, rationale Begründung. Atwood war für mich eine Autorin, die mehr oder weniger anspruchsvolle Romane für Frauen schrieb. So wie Isabel Allende oder ganz früher Colette – alles Vorurteile, ich weiß, aber irgendwie muss man sich ja in diesem weiten Feld der Literatur orientieren. Und es ist ja nicht so, dass ich nicht immer wieder auch bereit bin, meine Meinung zu ändern. So wie in diesem Fall. Nein, Atwood ist wirklich Spitze und sie schreibt Romane, die nicht nur Frauen, sondern auch Männer interessieren (sollten). Zumindest dieser eine Roman sollte das.
Als ihr mit Abstand erfolgreichstes Buch war ‚Der Report der Magd‘ natürlich ein zentrales Thema in dem ARTE-Autorinnenportrait (ich habe die Sendung unten verlinkt). Mich hat in der wirklich sehr sehenswerten Dokumentation zweierlei verblüfft: zum einen, dass so ein weltweiter literarischer Erfolg komplett an mir vorbei gehen konnte und andererseits die Aussage Atwoods, dass sie bei dem Roman eigentlich nichts erfunden hat, sondern nur zusammengefügt hat, was überall auf der Welt entweder bereits geschehen ist oder aktuell gerade passiert. Drittes Reich, Stalinismus und Islamischer Gottesstaat nach iranischem Vorbild. Als der Roman Anfang der Achtziger entstanden ist, gab es noch keinen IS. Aber was die Ayatollahs mit den Frauen im Iran damals schon gemacht haben, den Entzug aller Freiheiten und einem Großteil ihrer Bürgerrechte, die Reduktion auf rein dienende Funktionen, die Uniformierung und Verhüllung, die drastischen Strafen für jegliche Abweichung vom starren Moralkodex, das kommt dem schon sehr nah, was Atwood in ihrem Roman schildert und was dreißig Jahre später von radikalen Islamisten noch perfektioniert wurde. Ich kann gar nicht sagen, wie sehr ich meine Geschlechtsgenossen für so ein Verhalten verachte.
Und genau das ist es, was mich bei diesem Buch neben weiteren Parallelen zu den aktuellen Corona-Einschränkungen am meisten aufgeregt und bewegt hat. Das radikale Patriarchat, die systematische Unterdrückung von Frauen, ihre Reduktion auf Reproduktion und Arterhaltung, das ganze dumme männliche Machtgehabe. Es kotzt mich so an. Von Caligula über Dschingis Khan, Hitler, Stalin, bis hin zu Orban, Bolzenaro, Trump und Erdogan – immer schon waren und sind es Männer, die die Welt zu einem deutlich schlechteren Ort machten und immer noch machen. In diesem Zusammenhang muss ich an aktuelle Berichte denken, wonach sich Länder, die von Frauen geführt werden, am erfolgreichsten gegen die Corona-Pandemie stellen. Und das ist nur ein Beispiel von vielen. In puncto Politik, Bildung und Wirtschaft haben Frauen oftmals ein wesentlich besseres Händchen. Ist es generell nicht langsam Zeit für einen Wechsel? Zeit, sich als Mann in die zweite Reihe zu stellen und die Welt in weibliche Hände zu geben?
Aber kommen wir zurück zum eigentlich Thema. Nachdem die Welt Orwells Schicksalsjahr 1984 ohne Big-Brother-Diktatur unbeschadet überlebt hatte, musste dringend ein neues Worst-Case Szenario her. Atwoods Roman erschien1985 und schloß diese Lücke. Was im Report der Magd beschrieben wurde, musste für damalige Verhältnisse völlig utopisch klingen. Geschlossene Grenzen, wo sich doch Europa gerade öffnete, das Erstarken religiöser und partriachalischer Strukturen, staatliche Willkür und der Verlust persönlicher Freiheiten – in den westlichen Industrienationen glaubte man, das ein für allemal hinter sich gelassen zu haben. Man hatte das Gefühl, dass das Leben jeden Tag ein wenig freier, gleichberechtigter und friedlicher wurde.
Und jetzt? In wenigen Wochen bekommen wir eine Big-Brother App, die jeden unserer Schritte überwacht, die Grenzen sind zu, in den Läden sind die Grundnahrungsmittel ausverkauft, und Ordnungsdienst und Polizei patrouillieren in den Straßen, um die Hygienevorschriften und Kontaktsperren zu überwachen. Klar, das ist alles nur vorübergehend so. Wenn Corona erstmal vorbei ist, normalisiert sich das alles und unser Leben wird wieder so wie vorher.
Und wenn nicht?
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Foto: Gabriele Luger
Verlag: Piper Taschenbuch
Übersetzung: Helga Pietsch
412 Seiten, 12,00 €
Hier geht es zu der sehr sehenswerten Dokumentation über Margaret Atwood auf ARTE:
Nein, könnte und wöllte ich derzeit nicht lesen…man muss nicht mit zweifellos guter Literatur seine Ängste ins Unermessliche potenzieren…lieber mal kurz La Paloma singen…
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Ich kann deine Beklemmung verstehen, habe den Roman im Herbst oder Winter gelesen. Mein Glück war, dass paralell dazu im Radio das anschließende Buch, Die Zeuginnen, vorgelesen wurde. Es ist letztes Jahr erschienen und löst den Plot auf eine gute Weise auf, ohne ein hollywoodieskes Happyend zu haben. Ohne diesen Ausblick, hätte ich den Report der Magd womögllich weggelegt, so sehr hat er mir die Kehle zugeschnürt.
Und ja, alles geht vorüber. Auch Corona. Und lässt uns anders zurück.
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Toller Tipp, mit der Doku! Vielen Dank, die werde ich mir gleich mal ansehen! 🙂
„Der Report der Magd“ habe ich Anfang des Jahres mit meinem Buchclub gelesen (vor Corona, ein Glück!): Ich muss sagen, am Anfang musste ich mich auch wirklich zwingen, es zu lesen, weil ich es auch so beklemmend fand, aber gerade die 2. Hälfte des Romans nimmt dann nochmal ordentlich an Fahrt auf und hat mir persönlich sehr viel Spaß beim Lesen bereitet. 🙂
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Ja, es gibt die Sorge, dass nicht so sehr die Seuche und die damit verbundenen und auch sinnvollen Einschränkungen uns bleiben, als vielmehr die Einschränkung von FReiheiten und Überwachung. Nicht, dass das die Regierenden wollen würden (doch, Regierende wollen das eigentlich immer. Ein bißchen zumindest). Jedoch schleicht sich ja schon bei vielen Leuten wieder so eine urvertraute Blockwartmentalität ein, ach, das waren halt noch Zeiten… und so was kann weit führen ((93) auf meiner Seite hat gerade das zum Thema). Also ja, es ist gerade jetzt bedrückend und ja, es paßt natürlich. VIel zu gut.
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Manche Bücher sind nicht für jede Zeit gemacht. Trotzdem hast du mich neugierig gemacht. Mein Buchdealer hat es auf dem Tisch liegen und mir schon öfter angepriesen.
Grüße aus Berlin
Andrea
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