Deniz Ohde – Streulicht

So wenige für den Buchpreis nominierte Titel wie in diesem Jahr habe ich noch nie gelesen. Das Heldinnenepos von Anne Weber, der diesjährigen Preisträgerin, habe ich mir zwar gekauft und angelesen, aber nach knapp einem Viertel wieder weggelegt, weil die Versform mir zunächst interessant und ungewöhnlich erschien, es aber auf Dauer doch ermüdend und nicht so meins war. 

Von der Shortlist hat mich dann eigentlich nur noch Deniz Ohde interessiert, obwohl die Themen Herkunft und Migration mittlerweile ziemlich ausgelutscht sind und ich mich freuen würde, wenn mal wieder eine andere Sau durchs Dorf getrieben wird. Dank Corona dürfte es der schreibenden Zunft an neuen Themen nicht mangeln. Ich erwarte im nächsten Jahr jede Menge Bücher über Einsamkeit, Langeweile, Lagerkoller und eine ganz neue Art quergedachter Heldinnenepen,  inspiriert von Anne Frank und Sophie Scholl. Aber das ist alles wohl derzeit noch in der Mache, und daher müssen wir uns jetzt erstmal noch mit den alten 2019er Topics begnügen. 

Und wenn es so gut gemacht ist, wie in Deniz Ohdes Debütroman Streulicht, dann lese ich gerne auch den gefühlt vierhundertsten Entwicklungsroman über eine Protagonistin, die sich von den Fesseln ihrer Herkunft befreit und ihren Weg in ein besseres Leben findet. Ein Standard-Plot, der sich nicht nur in den letzten drei, vier Jahren in der deutschen Gegenwartsliteratur großer Beliebtheit erfreut hat, sondern eigentlich schon immer, zu jeder Zeit und in jedem Land, auf die unterschiedlichste Art interpretiert und erzählt wurde. Mit so einem Universal-Thema liegt man eigentlich immer richtig, denn etwas aus sich zu machen und ein irgendwie besseres Leben zu führen als das, was für einen ursprünglich vorgesehen war, ist der Traum vieler Menschen. 

Aber auch wenn man mit so einer Geschichte bei vielen Lesern erstmal offene Türen einrennt, heißt das nicht, dass man nichts falsch machen kann. Ganz im Gegenteil. Die Erwartungshaltung des Lesers ist hoch, er vergleicht mit anderen Titeln, die ihm in der Vergangenheit schon gut gefallen haben, will im Prinzip wieder genau das Gleiche lesen, aber eben ganz anders und wenn möglich sogar besser.

Und Streulicht ist genau so: anders und besser. 

Das Erste, was mir bei diesem Titel positiv aufgefallen ist, sind die starken Bilder. Bereits auf der ersten Seite gelingt es Ohde, den Ort des Geschehenes, eine durch die Chemieindustrie geprägte, westdeutsche Arbeiterstadt, wie z.B. Leverkusen oder Uerdingen, präzise zu beschreiben. Die feine Säure in der Luft, Gesichter voll ängstlicher Teilnahmslosigkeit, Linienbusse, die an der Endhaltestelle eine Schleife fahren und am Friedhof eine Pause machen. Schon als ich in der Buchhandlung die ersten Sätze las, wusste ich, dass das richtig gut ist und mir die Lektüre gefallen wird. 

Man merkt sofort, hier ist nichts aufgesetzt und ausgedacht. Hier weiß jemand, wovon er spricht, weil er, bzw. sie von hier kommt. Gleichzeitig hat die Erzählerin aber genügend Abstand, um den Ort, die Menschen und die Geschehnisse nüchtern, ungeschönt aber trotzdem liebevoll darzustellen. Und das alles auch noch sprachlich bemerkenswert rund und stimmig, so dass man mit einem wohligen Gefühl durch die Seiten gleitet. 

Und vielleicht hat mir der Roman auch deshalb so gut gefallen, weil ich da zum Teil auch meine Geschichte las. Auch ich kenne das, wenn einem erstmal überhaupt nichts zugetraut wird. Wenn dein fremder Name, die dunklen Augen und das schwarze Haar stärker sind und mehr Eindruck machen als du. Auch ich kenne das, wenn dir deine Eltern sagen, dass du aufgrund deiner Herkunft immer ein wenig besser als die anderen sein musst, um das Gleiche zu erreichen. Ich kann mich noch gut an einen Elternsprechtag in der neunten Klasse erinnern, als meine Deutschlehrerin zu meinen Eltern sagte, dass ich ganz gut mitkomme, obwohl ich ja nicht so gut Deutsch spreche. 

Das war genau der Zeitpunkt, als ich wie ein Verrückter angefangen habe zu lesen. So wie auch  Ohdes Protagonistin, die die ZEIT abonnierte und dazu eine Tasche bekam, mit der sie allen um sich herum signalisierte: Ich bin genauso so viel wert wie ihr, ich kann sprechen, lesen und denken. Und mit diesen Fertigkeiten werde ich es irgendwann schaffen, von diesem Ort wegzukommen, irgendwohin, wo keine feine Säure in der Luft liegt, Gesichter nicht voll ängstlicher Teilnahmslosigkeit sind und die Linienbusse am Friedhof keine Pause machen. 

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Foto: Gabriele Luger

Verlag: Suhrkamp
284 Seiten, 22,00 €

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