Valerie Fritsch – Winters Garten

 

Bevor ich auf dieses kleine Meisterwerk eingehe, muss ich ausnahmsweise mal aus meinem eigenen Blog zitieren. Ich schreibe hier für Menschen, „denen es wichtig ist, dass sie lesen und was sie lesen … Die nicht nur lesen, um etwas über Länder, Schicksale und das Leben zu erfahren, sondern auch über sich selbst. Für die Geschichten mehr sind als nur Ereignisse. Für die Sprache eine Kunst ist, Wörter Tiefe haben, Sätze eine Melodie und Seiten einen Klang“.

Wenn das, was ich da unter „reading man“ geschrieben habe, überhaupt für eines der vielen hier vorgestellten Bücher gilt, dann für Valerie Fritsch und Winters Garten. In diesem für den Deutschen Buchpreis nominierten Roman ist all das aufs Feinste umgesetzt. Hier hat jedes Wort Bedeutung und Tiefe, Sätze eine Melodie und jede Seite einen Klang. Und was für einen Klang – ein Orchesterwerk, eine Sinfonie, ein einfach nur selig stimmender Lesegenuss.

Ich kann mich nicht erinnern, wann ich zuletzt so ein sprachgewaltiges Werk in den Händen gehalten habe. Immer wieder habe ich meinen Bleistift gezückt und Sätze angestrichen. Formulierungen, die mir gefielen, die mich begeisterten, bewegten, etwas in mir zum Klingen brachten. Irgendwann habe ich angefangen, ganze Seiten zu markieren, denn das hörte gar nicht mehr auf mit den perfekten Sätzen. Kurze prägnante Sätze, lange verschachtelte Sätze, ungewöhnliche Sätze. Konstruktionen, die mich beim Lesen immer wieder überraschten, mit Schlenkern und Einschüben, die ich so nicht erwartet hätte. Valerie Fritsch hat einen Schreibstil, eine Kunstfertigkeit, die man anschauen und bewundern aber nicht lernen kann. Denn um so etwas abzuliefern, muss man mehr als nur gut schreiben können, braucht man mehr als nur Talent – man braucht Virtuosität.

Ich weiß, ich trage jetzt sehr dick auf, aber ich bin auch wirklich sehr, sehr angetan. Dabei tat ich mich zunächst schwer, in das Buch reinzukommen. Die Sprache hat mich zwar sofort eingenommen, aber ich irrte auf den ersten 50 Seiten noch durch das Setting, suchte in den wortgewandten Beschreibungen nach dem Plot, nach Informationen zur angedeuteten Katastrophe, nach Sinn und Zweck. Aber man wird nicht richtig fündig.

Die eigentliche Geschichte ist in wenigen Sätzen erzählt. Der Protagonist Anton Winter ist auf einem Landgehöft mit einem großen, idyllischen Garten aufgewachsen. Eine Art Familien-Kommune, wo Kinder, Eltern, Onkel, Tanten und Großeltern ein wunderbar naturnahes Leben führten. Man erfährt nicht, in welchem Land und in welcher Zeit die Geschichte spielt. Irgendwo in der Nähe ist eine Stadt am Meer, wo Anton als Erwachsener hinzieht. Er ist Vogelzüchter und wohnt in einem verglasten Kubus auf dem Dach eines Hochhauses. Als die Handlung dorthin schwenkt, ist die Welt plötzlich verloren. Irgendetwas ist passiert, alle Ordnung, alle Hoffnung zerstört. Zootiere laufen auf den Straßen herum, Menschen bringen sich in Verzweiflung um, kein Strom, kein Wasser – Endzeitstimmung. In der dem Untergang geweihten Stadt trifft Anton schließlich Friederike, die erste und einzige Frau in seinem Leben. Beide erleben eine intensive Liebesromanze. Im Angesicht des drohenden Untergangs kehrt Anton zurück in den Garten seiner Jugend. Dort schließt sich der Lebenskreis und die Welt geht unter.

Ja, das ist in aller Kargheit der Plot von Winters Garten. Mehr gibt es beileibe nicht zu erzählen. Dabei wird klar, dass dies kein Roman für Menschen ist, die eine treibende, spannungsgeladene Geschichte mit viel Hintergrunddetails über Land und Leute erwarten. Valerie Fritsch tut uns nicht den Gefallen über die sicherlich sehr interessanten Verwicklungen, die letztlich zum Weltuntergang geführt haben, zu berichten. Stattdessen erfahren wir, wie es im Garten gerochen hat, sehen den Schmetterlingen zu, wie sie von Blüte zu Blüte flattern, um sich letztlich im wunderschönstem Gegenlicht auf dem leuchtenden Haarkranz eines Mädchens niederzulassen.

Als ich irgendwann verstanden hatte, dass die Autorin mir die Informationen zu Ort und Zeit, warum und wieso der Handlung nicht geben wird, konnte ich mich endlich auf die Sprache richtig einlassen. Und nachdem es keinen Sinn mehr machte, jeden bemerkenswerten Satz, jede außergewöhnliche Seite mit Bleistift zu markieren, bin ich dazu übergangen, laut zu lesen. Das mache ich sonst nur bei Gedichten. Aber hier steigerte das laute Lesen noch einmal den Lesegenuss. Der Klang der Wörter, die Melodie der Sätze dringt so viel besser zu einem durch.  Wie im Rausch las ich bis spät in die Nacht die letzten Seiten. Tief bewegt legte ich das Buch aus den Händen, mit dem Gefühl, gerade etwas wirklich Außergewöhnliches erlebt zu haben.

______________

Titelfoto: Gabriele Luger

Verlag: Suhrkamp
154 Seiten, 16,95 €
Auf Buchhandel.de bestellen

13 Kommentare

  1. Lieber Tobias,
    Ich gebe mich ja schon geschlagen! EIgentlich wollte ich diesen Endzeitroman nicht lesen, was sollte die Lektüre schon bringen, Endzeit gibt es ja fast schon genug, wenn ich nur vor die Tür schaue. Aber nach Deiner geradezu hymnischen Besprechung muss ich mich wohl doch in Winters Garten begeben. Ich werde berichten…
    Viele Grüße, Claudia

    Gefällt 3 Personen

  2. Ich habe das Buch gestern verschlungen….und kann mich der ersten hymnischen Besprechung beinahe anschließen…sicher ein Roman, der sprachlich seinesgleichen auf der Longlist sucht (soweit ich das jetzt von den ersten drei Büchern beurteilen kann) und sich auch ansonst aus der Masse heraushebt. Was mir noch ein wenig Nachdenken bereitet ist, ob auch das „Gesamtpaket“ (Inhalt, Erzählung, Charaktere etc) neben dieser sagenhaft dunklen Poesie der Sätze Stand hält, Bestand hat. Auf jeden Fall der Lektüre wert und auch zum mehrmaligen Lesen eine Empfehlung.

    Gefällt 1 Person

    1. Hallo Birgit,
      wenn ich an die Bücher zurückdenke, die ich in meinem Leben schon gelesen habe, stelle ich fest, dass Inhalte, Charaktere und das Setting schnell verblassen und in einigen Fällen von mir überhaupt nicht mehr erinnert werden. Aber die Sprache, das Lesevergnügen, die erzeugte Stimmung – das alles ist emotional, passiert nicht nur im Kopf und bleibt daher in Erinnerung.

      Wer wie Valerie Fritsch schreiben kann, braucht keine grandiosen Geschichten, kein außergewöhnliches Setting, keine komplizierten Charaktere. Deswegen fehlt mir bei diesem Roman auch nichts.

      Gefällt 2 Personen

  3. Bin ganz begeistert von der Begeisterung und jetzt gespannt, wie es mir, wenn ich das Buch dann, wahrscheinlich Ende nächster Woche, lesen werde, damit geht
    Aber, daß Valerie Fritsch eine starke und sehr poetische Sprache hat, ist mir bewußt, ich habe dann meistens ein bißchen Schwierigkeiten, wie etwas bei Andrea Winkler https://literaturgefluester.wordpress.com/2010/11/02/priessnitzpreis-an-andrea-winkler/ oder Richard Obermayerhttps://literaturgefluester.wordpress.com/2015/08/08/das-fenster/, wenn mir dann die Handlung fehlt, ein bißchen habe ich den bisherigen Kommentaren entnehmen können, daß das hier auch sein könnte, bin also sehr neugierig, denn ich kenne Valerie Fritsch https://literaturgefluester.wordpress.com/2015/04/27/dichte-und-dicke-luft-in-der-alten-schmiede/ ja sozusagen von ihren ersten Anfängen, habe eine ihrer ersten Lesungen https://literaturgefluester.wordpress.com/2010/02/05/die-welt-hat-ihre-erinnerung-verloren/ gehört und auch zwei ihrer früheren https://literaturgefluester.wordpress.com/2013/11/13/die-verkorperungen/ Bücher https://literaturgefluester.wordpress.com/2013/09/11/die-welt-ist-meine-innerei/ gelesen.
    Monique Switters https://literaturgefluester.wordpress.com/2015/08/25/eins-im-anderen/ ist mir beim Lesen allerdings auch durch eine sehr starke poetische Sprache aufgefallen, was ich in Klagenfurt nicht so ganz bemerkt habe.

    Like

  4. Jetzt habe ich es gelesen und war, wie ich schon geschrieben habe, ein wenig enttäuscht.
    Vielleicht habe ich mir angesichts all der Lobeshymnen zuviel erwartet, es tut mir leid, aber ich fand diese Geschichte vom Weltuntergang eher altmodisch und etwas kitschig, als so unbedingt lyrisch, das würde ich diesmal eher der Monique Schwitter https://literaturgefluester.wordpress.com/2015/08/25/eins-im-anderen/ unterstellen, da fand ichs, in „Winters Garten“ eher nicht, sondern ein Gejagtwerden von einer Metapher und einem Adjektiv zum nächsten, dann noch diese Weltuntergangsgeschichte, die Metapher von den Marmeladengläser der Großmutter mit den Totgeburten, die „papageiegenhaften Dirnen“, den Geigen bauenden Vater, den Vögel züchtenden Anton, die Offizierin gewesene Geliebte, wenn ich auch ein wenig metapherhaft werden soll, würde ich schreiben, daß ich das Buch, wenn ich es vielleicht vor einem Weltuntergang vergilbt in einem alten Kasten finden würde, eher für einen Liebensroman aus der Gartenlaube, als das Werk einer sechsundzwanzigjährigen jungen Frau halten würde.
    Schade, vielleicht liegts an mir, daß ich mir zuviel erwartet haben, vielleicht ist es eine andere Überforderung, vielleicht kann ich beim nächsten Buch wieder was anderes schreiben!

    Like

  5. Valerie Fritsch war das Beste ( neben Knausgaard ) was ich in diesem Jahr gelesen habe. Sie schreibt fast visionär und zeichnet ein Bild welches von glühendsten Farben in ein schwarzes sehr finsteres Nichts übergeht und trotzdem leuchtet alles nach, wie ein noch glimmendes Feuer unter einem prächtig klarem Sternenhimmel 🙂 Übrigens: Ich finde inzwischen, dass es gar keinen PLOT braucht um gute Geschichten zu erzählen.

    Gefällt 1 Person

Hinterlasse einen Kommentar