David Vann – Dreck

 

Ich sitze hier sprachlos, ohne Worte. Dafür aber mit tausend Bildern, die mich nicht mehr loslassen. Der Slip der Cousine, das Pornoheft im Kinderzimmerbett, die Walnussplantage, der Geräteschuppen. Das alles geistert mir nach diesem Buch im Kopf herum. Ich denke an meine Jugend, daran dass ich auch mal Siddartha gelesen habe, chinesische Orakel und autogenes Training toll fand. Dass ich aber noch die Kurve gekriegt habe, raus aus dem Kinderzimmer, hinein ins Leben.

Galen, der Anti-Held dieses Romans, hat diesen Absprung nicht geschafft. Mit 22 Jahren sitzt er immer noch daheim und hat nichts anderes zu tun, als zu meditieren und mehrmals am Tag zu onanieren. Sein Zuhause ist ein altes Herrenhaus im Westen der USA – groß, weitläufig mit langer Kiesauffahrt und vielen Morgen Land. Galens Großeltern haben das alles aufgebaut, doch jetzt sind nur noch er und seine Mutter da. Und die lässt ihn nicht los.

Denn eigentlich würde Galen gerne aufs College oder mal für ein Jahr nach Paris gehen. Ein Leben führen wie alle anderen jungen Amerikaner aus gutem Hause es tun. Irgendetwas studieren, Mädchen, Alkohol, Reisen – endlich anfangen zu leben. Aber es ist angeblich kein Geld mehr da. Es reicht gerade für das Haus und Großmutters Platz im Altersheim.

Und so wird Galen zu dem, was ein Zuviel an Mutterliebe früher oder später aus jedem gesunden Mann macht: ein Sonderling, ein Freak, so ein Photoshop Philipp, DSDS-Teilnehmer. Einer, der nachts nackt durch die Gegend läuft, sich einen Speer bastelt und rund um die Uhr an die Muschi seiner Cousine denkt.

Nichts an der Handlung dieses verstörenden Romans ist jetzt besonders krass, abgefahren, schräg oder skurril. Abgesehen von den Verhaltensauffälligkeiten unseres Freaks Galen ist das eigentlich eine ganz normale Familiengeschichte, die wir alle in irgendeiner Form so erzählen könnten. Bis zu dem Punkt, wo alles aus dem Ruder läuft, als der Tipping Point überschritten wird. So wie der erste Stein, der ins Fenster eines verlassenen Hauses geworfen wird und dem Vandalismus Tor und Tür öffnet.

Nach und nach baut David Vann sein Beklemmungs-Szenario auf und zieht Seite für Seite die Schlinge weiter zu. Mit einfacher, schnörkelloser Sprache führt er die Leser an den Punkt, wo Galen zum Vandalen wird und zu ganz großer Form auffährt. Mehr kann ich dazu leider nicht sagen, ohne zu spoilern. Aber ich habe das Buch am Ende zugeklappt, musste erst einmal einen ganz großen Kloß im Hals herunterschlucken. Ein paar Wörter habe ich mittlerweile für dieses bemerkenswerte Werk gefunden, die Bilder aus Galens Onanierstübchen aber geistern mir immer noch den Kopf. Ich glaube, dagegen hilft nur autogenes Training. Ob ich das wohl noch kann?

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Verlag: Suhrkamp
296 Seiten, 19,95 €
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3 Kommentare

  1. Vann ist meine Entdeckung des letzten Jahres! Mein erster war „Im Schatten des Vaters“, dann konnte ich nicht aufhören bis ich den letzten inhaliert hatte und jetzt warte ich sehnsüchtig auf „Aquarium“.

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  2. Ein außergewöhnliches Buch! „Dreck“ hat mich einerseits verstört (Galen und seine Familiegeschichte) und andererseits total gefesselt (die distanzierte Sprache von David Vann und die intensive Einsicht in die Gedanken von Galen). Den „Kloß“ nach der Lektüre kann ich absolut nachvollziehen.

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  3. Das Buch ist sooo krass, ich war damals völlig fertig und hab geschrieben: „Dreck von David Vann ist nicht einfach nur Dreck. Es ist Morast, Sumpfgebiet, Treibsand. Dieses Buch ist wie eine Schlingpflanze, die sich um meinen Knöchel windet und mich hineinzieht in eine überaus verstörende Geschichte über einen jungen Mann, der eines Tages – aufgestachelt von Provokationen, Hass und pseudospirituellem Gedankengut – eine Grenze überschreitet und nicht mehr zurück kann. Der preisgekrönte Autor entwirft ein spannungsgeladenes Umfeld, in dem von Anfang an die Blitze fliegen. Es ist völlig logisch, dass sich das Unwetter, das sich zusammenbraut, entladen wird. Doch als es das schließlich tut, geschieht es auf dermaßen heftige Weise, dass ich mich ungläubig aufgerissenen Augen dastehe und es nicht fassen kann.“ https://buecherwurmloch.wordpress.com/2013/03/20/david-vann-dreck/.

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