Big Data, der Bücherkanon und warum Amazon gar nicht so schlecht ist

 

Wer bloggt, darf sich nicht wundern. Wer auf Facebook ist erst recht nicht. Tue ich auch nicht, denn ich will es ja so. Ich gebe Informationen preis, sag was mir gefällt und was nicht. Und da draußen lesen Leute mit. Auch das wundert mich nicht. Denn ohne Publikum wäre es ja witzlos. Ich weiß auch, dass das alles irgendwo gespeichert wird. Was ich so schreibe, like, meine. In riesigen Rechenzentren in Kalifornien, vielleicht aber auch gleich hier um die Ecke in Mönchengladbach oder Krefeld.

Big Data. Ich bin ein Teil davon. Das Internet kennt mich. Besser als meine Eltern, besser als meine Kollegen. Kennt mich vielleicht irgendwann sogar besser als ich mich selbst. Nicht alles von mir, aber Teile davon. Zum Beispiel mich als Leser. Da bin ich wie ein aufgeschlagenes Buch – nackig, transparent, der gläserne Kunde. Denn alles was ich lese, habe ich entweder aus dem Internet oder stelle es irgendwann dort ein. Als Rezension, mit Foto und Bewertung. Amazon kennt meinen Geschmack genau. Die Buch-Empfehlungen treffen in der Regel auf den Punkt. Der neue Houellebecq wird mir vorgeschlagen. Passt – aber hab ich mir schon im Buchladen gekauft. Lutz Seiler – na klar, gehört als Buchpreisgewinner natürlich auch in meine Leseliste. Seethaler, Thomas Melle und Katja Petrowskaja – alles Volltreffer, alles Top-Empfehlungen.

Bevor hier die ersten mit den Augen rollen und die Litanei vom Überwachungsstaat anstimmen – ich will das so. Ich finde gut, dass Amazon mich so gut kennt, um mir treffsicher Produkte vorzuschlagen. Denn ich habe keine Zeit für Experimente und keine Lust auf Werbung, die nichts mit mir zu tun hat.

Ich denke dabei an die aktuelle Diskussion hier in den Blogs zur neuen Frühjahrs-Bücherschwemme, der Halbwertzeit von Büchern (buzzaldrin) und dem Bücherkanon (sätze&schätze). Birgit zitiert in Ihrem Blog Arno Schmidt, der vorrechnet, dass man als berufstätiger Mensch gerade mal die Lektüre von 3.000 Büchern im Leben schafft. Da ist jede schlechte Empfehlung, jede Lektüre, die mich langweilt, mich nicht weiter bringt, mir nichts zu sagen hat, einfach vertane Lebenszeit. Ich habe nicht nur nichts dagegen, dass Algorithmen meine Daten im Netz zu Werbeempfehlungen hochrechnen. Nein, ich erwarte es mittlerweile sogar. Denn so geht Werbung heutzutage. Streuverluste kosten die Unternehmen nicht nur Geld, mich kostet es Zeit. Lebenszeit, die ich mit dem falschen Produkt verbracht habe. Und schon sind es nur noch 2999 Bücher, die man im Leben lesen kann.

Natürlich bin ich nicht total naiv und weiß selbstverständlich, dass auch Missbrauch mit meinen Daten getrieben werden kann. Aber höre ich deswegen auf zu telefonieren oder krankenversichert zu sein? Ich habe gelernt, mit meinen Datenspuren zu leben. Daten, die ich bewusst freigebe, Daten, von denen ich mir denken kann, dass sie gespeichert werden, Daten, die mein Handy automatisch erfasst. Ich weiß dass ich gerade jetzt, während ich das hier schreibe, Daten produziere, die mich z.B. als Blogger, als Leser, als Amazon-Kunden outen. Genauso wie jeder, der das hier gerade liest, als Datensatz in meiner WordPress-Statistik auftaucht.

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Und damit komme ich zu einem Buch, das ich allen an diesem Thema interessierten Lesern wärmstens empfehlen kann. Christoph Kucklick „Die Granulare Gesellschaft“ – das ultimative Buch zum Thema Big Data!“ Ich bin noch nicht ganz durch, deswegen gibt es hier keine Rezension. Aber soviel kann ich schon sagen. Der Autor zeigt sehr kenntnisreich und ohne dystopische Big-Brother-Ressentiments den Stand der Technik in Sachen Datenauswertung und die Auswirkungen auf unser Leben. Und was soll ich sagen? Das Leben wird durch Big Data nicht schlechter – ganz im Gegenteil. Vieles im Leben wird klarer, wenn man sich einfach nur mal die Daten anschaut. Frei von allen Deutungen und Interpretationen. Die Zahlen sprechen eine klare Sprache. Vollkommen unromantisch und überhaupt nicht literarisch. In Sachen Gesundheit, bei der Partnerwahl, bei politischen Präferenzen und natürlich auch bei Literaturempfehlungen.

Und wer sich jetzt aufregt und meint: diese Entwicklung müssen wir unbedingt aufhalten – der sei an Dürrenmatts „Physiker“ erinnert. Ich hab den Klassiker damals in der Schule gelesen und die Conclusio ist mir bis heute in Erinnerung geblieben: Alles, was technisch machbar ist, wird auch gemacht. Man kann es nicht aufhalten, man muss lernen, damit zu leben.

7 Kommentare

  1. Diesen Standpunkt teile ich in Hinblick dessen, welchen Nutzen gute Algorithmen uns liefern können. Ich surfe auch nicht privat, sondern schätze es, dass ich immer besser zugeschnitten Antworten auf meine Suchen bekomme oder Empfehlungen. Da bin ich sogar noch häufig enttäuscht, wenn die nicht so funktionieren, wie ich mir das wünsche. Beste Beispiel Facebook, das mich mit seinem Newsfeed-Algo nervt und ich lieber auf chronologisches Zeigen umschalte.

    Doch es gibt einen anderen Aspekt, der mir Sorge bereitet. Der liegt in der Naivität unseres Bedürfnis nach Selbstoptimierung. Und zudem die Akzeptanz, dass damit eine Entsolidarisierung in der Gesellschaft einhergeht. Das habe ich etwas ausführlicher anhand des Resümees über das Buch von Yvonne Hofstetter „Sie wissen alles“ beschrieben. Dies geht wohl etwas weniger nüchtern auf die Schattenseiten der Digitalisierung ein als Christoph Kucklick. Hab mir von ihm mal die Leseprobe geladen. Zu Hofstetter hier: https://thomasbrasch.wordpress.com/2014/10/16/sie-wissen-alles-und-wir-konnen-nicht-behaupten-wir-hatten-von-nichts-gewusst/

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  2. Grundsätzlich gebe ich dir recht, zumal das Rad der Zeit der sowieso nicht zurückzudrehen ist. Solange dabei fairer Wettbewerb gegeben ist, hat diese Entwicklung durchaus ihre Vorteile – wohl aber auch auch den Nachteil, dass kleinere Publikationen und Verlage womöglich seltener „entdeckt“ werden können.

    Problematisch wird es allerdings, wenn dabei Interessenpolitik ins Spiel kommt. Insbesondere Amazon – das ja nicht nur Vertrieb, sondern zunehmend auch Verlagskonkurrenz ist – nutzt seine Marktmacht zum Teil radikal aus: In den USA sind Bücher von Verlagen, die die Preispolitik von Amazon nicht mittragen wollen, manchmal ohne Angaben von Gründen plötzlich nicht oder nur verspätet lieferbar. Ein Algorithmus ist eben alles andere als unbestechlich, sondern allzu leicht manipulierbar: Bücher, die du vielleicht gerne gelesen hättest, tauchen dann womöglich nicht mehr in deinen Empfehlungen auf, sondern eher jene, die dem Monopolisten genehm sind.

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  3. Natürlich ist Big Data ein großer Themenkomplex, den man mit ein paar polemischen Sätzen wie in meinem Beitrag natürlich nicht umfassend behandeln kann. Machtinteressen und die Auflösung von Solidargemeinschaften spielen eine wichtige Rolle in diesem Diskurs. Kucklick geht darauf in seinem Buch sehr ausführlich ein. Wie alle technischen Entwicklungen muss auch die Digitalisierung der Gesellschaft kritisch und sozialwissenschaftlich begleitet werden. Unternehmen wie Amazon, Google und Facebook leben ja mit dem Generalverdacht des Datenmissbrauchs und werden sehr kritisch beäugt – und das ist gut so. Aber mehr als alles andere braucht es den aufgeklärten, datenmündigen und kritischen Konsumenten, der Dinge hinterfragt und weiß, was da mit ihm gemacht wird.

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  4. Ist es denn so wichtig ob du 3000 oder (nur?) 2800 oder 2500 Bücher liest? Nicht die Menge machts. Es ist doch spannend neue Autoren zu entdecken, von Freunden zu hören, Themen zu verfolgen, sich mal überraschen zu lassen und auch öfter ein Buch enttäuscht oder wütend zuzuklappen und unters Bett zu schieben.
    Sind wir nicht schon zur Genüge von Maschinen und globalen Koporationen bis in die Haarspitzen subtil vernetzt und beeinflusst?
    In diesem Zusammenhang kommt mir „The Circle von Dave Egger“ in den Sinn. Ich war überrascht von der Entscheidung der Protagonistin am Ende des Buches. Aber wahrscheinlich geht der Trend in Wirklichkeit schon längst weit über die Vorstellungen von Aldous Huxley und George Orwell hinaus.

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    1. Natürlich gehört all das (Überraschung, Enttäuschung, Wut) beim Lesen mit dazu und wird sich auch in Zukunft, trotz Big Data, nicht wesentlich ändern. Trotzdem macht es in meinen Augen einen großen Unterschied, ob mir gute Bücher nach meinem Geschmack oder irgendetwas aus der Bestsellerliste empfohlen wird. Hier haben Maschinen und Programme gegenüber dem Menschen einen Vorteil, weil Programme sich viel merken können und vor allem nicht Ich-bezogen empfehlen. Und Empfehlung tut auf alle Fälle not – denn angesichts der Fülle an Neuerscheinungen braucht jeder eine Orientierung. Der eine mehr, der andere weniger.

      The Circle hab ich nicht gelesen und auch bisher nur Schlechtes drüber gehört. Lohnt es sich denn?

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      1. Die Stärke von The Circle liegt weniger in seiner literarischen Qualität als in der Darlegung einer bereits eingeleiteten anscheinend fotschrittlichen Zukunftsperspektive, die jedoch um den Preis der strengen (freiwillig-un-freiwilligen?) Anpassung unter das undurchsichtige Regime der Konzerne erkauft werden muss. Sprich: Aplle, Google, Microsoft, etc. Für mich eine der eindrucksvollsten Lektüren des letzten Jahres! Übrigens auch von Denisch Scheck bei Druckfrisch empfohlen.
        Lohnt sich auf jeden Fall.

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  5. Ich habe bislang jeden Roman von Dave Eggers gelesen und würde „The Circle“ sicher nicht zu seinen stärksten zählen (anders als den wunderbaren Vorgänger „Ein Hologramm für den König“); allerdings empfand ich ihn aufgrund des Themas als relevanten Beitrag zur Debatte und allein deshalb schon als lesenswert. Ein unterhaltsames Buch ist es, finde ich, jedenfalls schon.

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