Karin Kalisa – Sungs Laden.

 

Nett ist ja bekanntlich die kleine Schwester von Scheiße. Was soll man also davon halten, wenn man ein Buch ausgelesen hat, sich an den Rechner setzt, um ein paar Sätze darüber zu schreiben und einem immer nur dieses eine Adjektiv einfällt? Nett. Aber es ist einfach so, an diesem kleinen Roman ist alles irgendwie nett. Das fängt an beim grafisch sehr ansprechendem Cover und dem prägnanten, Interesse weckenden Buchtitel. Nett ist auch die Grundidee einer Multikulti-Utopie, man könnte es die zunehmende Vietnamisierung eines ganz bestimmten Teils des Abendlandes nennen, konkret des Berliner Bezirks Prenzlauer Berg.

Nett sind auch die Romanfiguren, wie Hien und Gam, die in den achtziger Jahren als Vertragsarbeiter von Vietnam in den sozialistischen Bruderstaat DDR kamen und hier geblieben sind. Oder ihr hier geborener Sohn Sung, dessen gelungene Integration in Deutschland gleichzeitig zu einem Verlust seiner vietnamesischen Wurzeln geführt hat.Gerade dieses kleine Detail hat meine ganze Aufmerksamkeit gefesselt, weil es meiner eigenen Biografie nicht unähnlich ist. Man muss die einzelnen Figuren einfach mögen, den Schuldirektor genauso wie die Dame vom Amt, den Zahnarzt und den Standesbeamten. Alle sind sie Prenzlberger – alteingesessen oder zugezogen – das ist in diesem kleinen Büchlein egal. Man mag sich, man ist nett zueinander, man respektiert und toleriert sich.

Wenn sich selbst die Politessen vietnamesische Kegelhüte aufsetzen, die rote Fahne mit Ho-Chi-Minh-Konterfei tagelang vom Dach des Bezirksamtes weht, wenn alle auf einmal merken, dass ihnen nichts genommen wird, sondern stattdessen etwas Neues, etwas Schönes und Aufregendes dazu kommt, dann ist das einfach nur nett. Aber leider auch zu nett, um wahr zu sein. Trotzdem macht es Spaß, sich so eine Welt einmal vorzustellen. Und Karin Kalisa gelingt es hervorragend, diese fiktive Multikulti-Idylle mitten in Berlin zu beschreiben. Nicht zu dick aufgetragen, nicht glorifiziert, die tatsächlichen Probleme nicht verkennend und vor allem: ohne eine offensichtliche gesellschaftspolitische Botschaft, ohne erhobenen Zeigefinger. Es ist immer genau an der Grenze zu „Könnte durchaus möglich sein“ und „Wer hat sich das denn ausgedacht“.

Dazu kommt ein sehr spezieller Erzählstil. Ich habe nicht herausfinden können, mit welchen Stilelementen die Autorin das macht. Aber sprachlich ist das sehr eigen, leicht, freundlich, zurückhaltend – im besten Sinne erzählend. Es liegt irgendwo zwischen Märchenonkel und Nachrichtensprecher. Beinahe hätte ich schon wieder gesagt, es ist nett. Aber in diesem Fall ist „nett“ die Zwillingsschwester von „lesenswert“.

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Titelfoto: Gabriele Luger

Verlag: C.H. Beck
250 Seiten, 19,95 €

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9 Kommentare

  1. Ohne das Buch gelesen zu haben: Das Titelfoto ist schon mehr als nett, kann in die Kategorie skurril. Ich mag solche Fotos sehr! Weil sie Spannung für das Dahinter aufbauen oder versprechen.

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  2. Ich habe es fast gelesen und sehe es auch ähnlich / als leichter Vorabendfilm vielleicht ganz nett / aber alles andere als Berlin tatsächlich ist / nett bestimmt nicht / und freundlich auch nicht / so ist alles ein netter Wunsch möge doch Berlin mal nett sein und die nette Autorin hat eine nette Illusion in zwei Buchdeckel gepackt / ob es die allgemeine Berlinranzigkeit jemals verbessert wage ich zu bezweifeln.
    Nett halt.

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  3. hallo buchrevier, ich fand „sungs laden“ auch sehr nett, im sinne von freundlich, optimistisch, leicht und fast schon ein bisschen überzuckert. für mich war das buch aber gerade deshalb irgendwie sehr zeitkritisch und auch aktuell. dadurch, dass es so zuckersüß ist, war mir beim lesen der unterschied zur bitteren realität die ganze zeit schmerzlich bewusst. ich würde deshalb sogar behaupten, dass es in gewisser weise ein schwermütiges buch ist. dazu kommt: über die migrationspolitik der ddr nachzudenken, finde ich vor dem hintergrund von pegida und co sogar ziemlich politisch. also: ein nettes buch, ja – aber für mich war es noch einiges mehr. 🙂

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