Ich hatte mit Juli Zehs „Unterleuten“ gerade einen Pageturner von über 600 Seiten nach wenigen Tagen ausgelesen und war so richtig im Leseflow. Nach positiven Lektüre- Erlebnissen bin ich immer total aufgekratzt und freue mich schon wie Bolle auf das nächste Setting, die nächste Geschichte. Ganz besonders, wenn sich Jonathan Franzen himself auf dem Backcover des von mir aus dem SUB gefischten Debütromans zu der Behauptung hinreißen lässt, die Sätze und Geschichten der mir vollkommen unbekannten Autorin so stark und überzeugend zu finden, dass man sich ihnen nicht entziehen kann.
Na dann – hinein ins Vergnügen. Aber schon nach wenigen Seiten musste ich feststellen, dieser Roman ist alles, nur kein Pageturner. Meine Augenlider wurden von Satz zu Satz immer schwerer, dabei war es gerade mal früh am Abend. Erstmal im Sessel ein kleines Nickerchen machen. So eine halbe Stunde Schlaf zwischen zwei Seiten kann manchmal richtig erfrischend sein. Dann geht es meistens umso besser weiter. Nach einer halben Stunde bin ich meistens auch wieder wach. Der Rücken schmerzt, aber ich bin wieder voll da. Kurz mal online gehen und auf dem Blog nachsehen, was die letzte Rezension macht. Oh, es gibt neue Kommentare. Die beantworte ich aber erst morgen. Und bei Facebook? Schon wieder zwei neue Likes auf Buchrevier. Mal schauen, was das für Leute sind. Aha, da ist ja noch eine Rezension zu Juli Zeh erschienen. Mal eben lesen. Nicht schlecht geschrieben, und den Blog kenn ich ja noch gar nicht. Was hat er denn noch so besprochen? Oh, eine Nachricht auf dem Messenger. Ach, wie nett. Da schreibe ich gleich mal zurück.
Jetzt bin ich aber durstig. Ich hol mir noch ein Bier aus dem Kühlschrank. Und dazu ein paar Gummibärchen. Aber was ist das denn? Haben wir etwa keine Gummibärchen mehr? Die Frau meint, dass in der Schublade noch welche sein müssten. Aber die Schublade ist leer. Dann eben ohne Gummibärchen! Schlecht gelaunt sinke ich wieder in den Lesesessel. Wo war ich stehen geblieben? Ach ja, Nell Zinks Mauerläufer, der Debütroman, dem man sich nicht entziehen kann. Lese ich gleich weiter, aber ich hab heute noch gar nicht auf Twitter geschaut. Was soll der Kommentar denn? Verstehe ich nicht. Ist aber auch egal, ich wollte doch lesen. Ist schon wieder fast zehn Uhr. Ein paar Seiten schaffe ich noch.
Ich wache auf, weil meine Frau mich sanft am Arm berührt. Es ist weit nach Mitternacht und längst Schlafenszeit. Ich klappe den Mauerläufer zu und nehme mir vor, morgen ein paar Seiten mehr zu schaffen. Das schmale Bändchen sollte ich normalerweise in zwei, drei Tagen durch haben. Aber auch am nächsten Abend das gleiche Spielchen. Ich schaffe höchstens, drei vier Seiten, bevor mir das erste Mal wieder die Augen zufallen. Am nächsten Abend fange ich gar nicht erst zu lesen an, sondern schreibe stattdessen etwas. Dann folgen zwei Abende, an denen ich überhaupt nicht zum Lesen komme, und so zieht sich die Lektüre dieses Buches über sage und schreibe knapp zwei Wochen hin. Nach zwei Tagen Pause braucht man ja immer ein paar Seiten, bis man wieder drin ist. Wer war jetzt noch mal Georg? Ach, der Arbeitskollege von Stephen oder bring ich da was durcheinander? Mein Gott, bin ich müde.
Ja, was soll ich sagen? Das habe ich mir jetzt ein paar Tage angeschaut, bis ich heute dann, zwanzig Seiten vor dem Ende, das Buch endgültig in die Ecke gelegt habe. Ich hatte noch nicht einmal mehr Lust, die letzten Seiten quer zu lesen, wollte nicht mehr wissen, mit welchem Umweltaktivisten die Protagonistin Tiffany jetzt wieder ins Bett geht und umgekehrt, mit welcher Vogelschützerin ihr Mann Stephen sie jetzt wieder betrügt. So wenig wie das Liebeschaos den beiden Protagonisten auszumachen schien, so wenig hat mich das interessiert. Es ist ja nicht so, dass ich das Beobachten von Vögeln, Tier- und Umweltschutz grundsätzlich langweilig finde. Uwe Timm hat das in seinem letzten Roman durchaus ansprechend und interessant thematisiert. Und auch in Juli Zehs Unterleuten geht es ja stellenweise auch um Vogelschutz. Aber Nell Zink hat es einfach nicht geschafft, mich mit ihrem Mauerläufer bei der Stange zu halten. Ich frage mich ernsthaft, was die junge Frau mir mit diesem Buch sagen wollte, was sie bewogen hat, überhaupt ein Buch zu schreiben. Weil sie es konnte?
Sprachlich ist es gar nicht übel. Es holpert nicht, hat einen gewissen Anspruch und manche Passagen haben mich sogar ganz gut unterhalten. Aber viel länger als zwei, drei Seiten hintereinander konnte Nell Zink mich nicht fesseln. Dann übermannte mich während der Beschreibung irgendwelcher Umweltschutzprojekte wieder diese bleierne Schwere und das dringende Bedürfnis irgendetwas anderes zu machen – tanzen, essen, trinken, alles nur nicht lesen und schon gar nicht dieses Buch.
Wenn dich eine Geschichte nicht erreicht, dann erreicht sie dich eben nicht. Da kann man nichts machen. Das muss man sportlich nehmen. Und wann hat man schon mal Gelegenheit zu sagen: „Sorry, Mr. Franzen, aber bei diesem Debütroman bin ich vollkommen anderer Meinung“. Interessant wird es am kommenden Freitag, wenn das Buch im literarischen Quartett besprochen wird. Ich könnte mir vorstellen, dass ein gewisser Frankfurter Sonntagsschreiber schon sein ganzes Leben lang auf dieses Buch gewartet hat. Wollen wir wetten?
_____________
Titelfoto: Gabriele Luger
Verlag: Rowohlt
192 Seiten, 19,95 €
Übersetzt von: Thomas Überhoff
Ich war auch enttauscht – dabei hatte ich gierig darauf gewartet, es zu lesen (da ich selbst in der Schweiz als Auslanderin lebe), aber…
LikeLike
Hat Spaß gemacht, deine Besprechung zu lesen. Da bin ich jetzt auch auf Freitag gespannt.
LikeLike
Ja, ich auch. Ich tippe auf 1:3.
LikeGefällt 1 Person
Vermutlich hat es Franzen nur gefallen, weil er selbst so ein Vogelfreak ist …
LikeLike
Ja, nur so kann ich mir das auch erklären.
LikeLike
Eigentlich mag ich keine Rezensionen, bei denen es mehr um die Befindlichkeit des Kritikers geht als um das Buch selbst. Deine unterhaltsame Rezension hat mir aber sehr gut gefallen 😉 Aussagekräftiger geht ja nicht mehr.
LikeLike
Ja, das ist der Vorteil an privaten Blogs. Da kann man über Bücher schreiben wie man will. Im Feuilleton ginge das gar nicht. Aber in diesem Fall wäre mir zu der Geschichte auch gar nicht viel mehr eingefallen als: tschilp!
LikeLike
Ich wusste doch, dass es irgendwo im Netz jeamanden gab der irgendwas zum “ Mauerläufer “ geschrieben hat, nachdem mir etliche Leute nun sagten wie klasse sie es gefunden hätten usw usw wollte ich gern mal eine Rezension von meinen “ Bloggerfreunden “ lesen. DANKE, irgendwas war…..das dachte ich mir. Ich lese dann mal statt Mauerläufer Emaunel Bergmann 😉
LikeLike