Daniel Kehlmann – Tyll (Hörbuch)

Ich hätte das Buch jetzt gerne in der Hand, um es durchzublättern, ein paar Absätze zu lesen und nochmal kurz in die Geschichte einzutauchen. So mache ich das immer, bevor ich etwas darüber schreibe. Das ist so eine Art Ritual, gehört einfach dazu. Während ich schreibe, liegt das Buch neben der Tastatur. Wenn ich nicht weiter weiß, gucke ich es an, nehme es zur Hand, blättere durch die Seiten. Aber in diesem Fall geht das leider nicht, denn ich besitze das Buch gar nicht. Den neuesten Kehlmann habe ich nämlich nicht gelesen, sondern nur gehört.

Und was soll ich sagen? Nun ja…, dieses Buch, …ääh, nein, dieses Hörbuch war…, irgendwie anders, …ein komplett neues Gefühl… es war …wie soll ich sagen… es war … und das sage ich jetzt nicht nur so…das meine ich, wie ich es sage…: es war einfach nur geil! Das Buch, die Atmosphäre, die Geschichte, diese beeindruckende Stimme. Gelesen von Ulrich Noethen. Dieser Sprecher ist wirklich nicht zu toppen. 11 Stunden und 17 Minuten habe ich an seinen Lippen gehangen und mich nicht eine einzige Sekunde gelangweilt. Während er las bin ich komplett in meinen Kopfhörern versunken, war unerreichbar für die Außenwelt, war nicht im Hier und Jetzt, sondern war mit allen Sinnen mitten im Romansetting von Tyll.

Und das spielt in Deutschland zur Zeit des dreißigjährigen Krieges – von 1618 bis 1638 nichts als Elend, Hunger und Tod. Durchs Land ziehen abwechselnd marodierende Truppen des deutschen Kaisers, des Schwedenkönigs oder versprengte Söldner, die mal auf der einen, und mal auf der anderen Seite anheuern. Die Winter sind bitterkalt, es gibt kein Brennholz mehr, die Pest wütet, und zu allem Überfluss treibt auch die heilige Inquisition immer noch ihr Unwesen. Eines Tages gerät ein Müller namens Klaus Ulenspiegel in die Fänge zweier Hexen jagender Jesuiten. Ulenspiegel wird der Ketzerei angeklagt und hingerichtet. Die Familie zerbricht, sein schmächtiger und etwas absonderlicher Sohn Tyll flüchtet und schlägt sich als Gaukler durch die Lande.

Er ist sehr talentiert, hat ein loses Mundwerk, läuft sicher auf dem Hochseil und kann jonglieren wie der Teufel. Nach einiger Zeit spricht ganz Deutschland von ihm. „Seht, da ist der Tyll, der Tyll ist da, haha der Tyll, oh ja, der Tyll“, so erschallt es freudig überall, wo er mit seinem Wagen auftaucht. Ein paar Minuten das Elend vergessen, lachen, staunen, applaudieren. Das brauchen die Leute in dieser Zeit ganz dringend. Was ein Heinz Ehrhard im Wirtschaftswunder-Deutschland und Otto Waalkes in den 1970ern, war Tyll Ulenspiegel im finsteren 17. Jahrhundert: der absolute Megastar. Sein Ruf eilte ihm voraus, selbst Kurfürsten und Könige waren Fans und hielten ihre schützende Hand über ihn. Und so kam er irgendwie immer durch, überstand viele Jahre die Wirren des Krieges als fahrender Gaukler, als Hofnarr, als Schächte grabender Soldat unter Tage.

All das habe ich erlebt, als wäre ich selbst dabei gewesen. Niemals hätte ich es für möglich gehalten, dass Hörbuch hören ein so intensives Erlebnis sein kann. In diesem Fall wirklich viel intensiver, als hätte ich das Buch selbst gelesen. Mit den Ohren war ich buchstäblich mittendrin im dreißigjährigen Krieg. Und nicht nur mit den Ohren. Ich habe all das Elend und die Krankheiten gerochen, die Kälte und den Hunger gespürt. Wenn mich einer fragen würde: Kennst Du den Ulenspiegel? Ja klar, würde ich sagen, das ist ein Kumpel von mir. Der Winterkönig? Kenn ich auch, ein Depp, der unter dem Pantoffel seiner Gemahlin steht. Und halte dich fern vom Pirmin, das ist ein richtig fieser Geselle.

Es ist unglaublich, wie intensiv das alles nachwirkt. Eigentlich stehe ich ja gar nicht auf historische Romane, sondern bekanntermaßen mehr auf Gegenwartsliteratur. Und auch die Person Tyll Ulenspiegel hat mich bisher nicht die Bohne interessiert. Deswegen war das Buch auch überhaupt nicht auf meiner Agenda. Umso bemerkenswerter, dass ich jetzt geradezu dafür brenne. Kehlmann knüpft hier an seinen zur ungefähr gleichen Zeit spielenden Megaseller „Die Vermessung der Welt“ an und übertrifft ihn noch. Tyll ist noch beeindruckender, noch sprachmächtiger, noch nachhaltiger. Warum stand dieser Roman im letzten Jahr eigentlich nicht auf der Longlist des Deutschen Buchpreises?

So ganz traue ich meiner Empfindung noch nicht. Ich werde mir auf alle Fälle auch das gedruckte Buch noch besorgen und überprüfen, ob sich auf die althergebrachte Art und Weise, also richtig lesend, die gleiche Begeisterung einstellt. Ich schätze aber nicht, denn Ulrich Noethen liest einfach besser als ich, holt mehr aus den Sätzen heraus, schöpft das ganze literarische Potenzial dieses Werkes aus. Er rezitiert, proklamiert, intoniert, macht für mich die ganze Drecksarbeit, das Handwerkliche, während ich einfach nur zuhöre und mich entführen lasse.

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Foto: Gabriele Luger

Hörbuch (ungekürzt):
Verlag: Argon Verlag
gesprochen von Ulrich Noethen
Länge: 11: 17 h, 23,95 €
Hörprobe bei Audible anhören.

Print:
Verlag: Rowohlt
480 Seiten, 22,95 €

5 Kommentare

  1. Moin!

    Hörbücher sind in der Tat ein ganz anderes Erlebnis. So ein ähnliches Erlebnis hatte ich mit dem Hörbuch von Hape Kerkeling: Ich bin dann mal weg. Das hat er ja selbst gesprochen und durch seine Fremdsprachenkenntnisse war es noch einmal authentischer und lebhafter.

    Grüße
    Andre

    Gefällt 1 Person

  2. Hallo Tobias,
    deine Rezension hat große Vorfreude in mir erzeugt, denn das Hörbuch-Download von Tyll wartet schon auf mich. Die geschriebene Version soll – das habe ich von vielen Seiten gehört – genauso euphorisierend sein. Überhaupt Kehlmann: Ich glaube, alles von ihm ist irgendwie toll, „F“ habe ich von Burghard Klaußner gelesen gehört und war ähnlich von den Socken wie du jetzt. Größt mögliche Empfehlung!!
    Grüße
    Smilla

    Gefällt 2 Personen

  3. hallöchen^^
    Ich selbst bin ja leider gar nicht der Hörbuch-Mensch… Ich kann mir sehr gut vorstellen, dass ein guter Sprecher nochmal was ganz anderes aus einem Buch raus holen kann (bzw es kaputt machen kann)
    Dennoch muss man auch einfach sagen, dass Kehlmann der Hammer ist und Tyll ein Meisterwerk! Noch immer bin ich fassungslos dass die Leipziger Buchmesse ihn nichtmal nominiert hat…
    Es gibt wenige Autoren die mit solch einer Leichtigkeit, einem Witz und Bescheidenheit subtil all die großen Themen streifen, die unsere Welt zu bieten hat… Jedes Buch Kehlmann ist für mich die Suche nach dem….. was die Welt im Innersten zusammen hält 😉

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  4. Den Ulenspiegel in den 30-jährigen krieg zu verlegen, ist im prinzip ne gute idee, und die gestaltung der personen ist originell, aber meisterwerk?! — mein problem mit kehlmann waren meine vor-lektüren des stoffes: erstmal natürlich die original-geschichten (unschlagbar): bei Reclam „Ein kurtzweilig lesen….“;
    dasselbe in heutigem Deutsch bei Insel TB; beides mit tollen Eräuterungen; ein Meisterwerk ist dagegen nur
    Charles de Costers Version: verlegt in die spanisch besetzten Niederlande; grausam und ohne Späße. Weltliteratur!

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