Haruki Murakami – Die Ermordung des Commendatore (1)

Da ist er ja wieder, mein japanischer Freund. Mit einem anderen Leben zwar, mit ein paar neuen Skills, trotzdem unverkennbar er. Er öffnet die Tür und lässt mich eintreten. Ein kurzes freundschaftliches Nicken, kein Händedruck. Die vertraute Ordnung empfängt mich, alles hier hat seinen Platz, penibel sauber, wie immer. Es ist, als wäre ich nie weg gewesen.

Wir trinken einen grünen Tee, dazu reicht er ein paar leichte Sandwiches mit Thunfisch und Salat. Ob ich Lust hätte, etwas Musik zu hören, fragt er, während er eine Vinyl-Langspielplatte aus dem Regal zieht und zu der teuren Stereoanlage geht. Er habe leider nur klassische Musik, sagt er entschuldigend. Als er mein verdutztes Gesicht erblickt, fügt er erklärend hinzu, dass er trotzdem nach wie vor großer Jazz-Fan ist. Es wäre nicht seine Plattensammlung und auch überhaupt nicht sein Haus.

Aus den dezent im Raum verteilten Lautsprechern ertönt eine Mozart-Oper. „Don Giovanni – in einer Version, die nur zweimal in dieser Form aufgeführt wurde“, erläutert er und setzt sich in den bequem aussehenden Sessel mir gegenüber. Einige Zeit sitzen wir nur da, lauschen schweigend der Musik. Irgendwann frage ich, was alles so passiert ist seit damals. Nicht viel, lautet die spontane Antwort, während er meinem Blick ausweicht. Eine Zeitlang blickt er seltsam entrückt aus dem Fenster, und ich kann nicht einordnen, ob er in seiner Erinnerung nach Erzählenswertem kramt oder einfach nur der Musik lauscht und dabei meine Anwesenheit total vergessen hat.

„Meine Frau hat mich vor sechs Monaten verlassen“, fängt er unvermittelt an zu erzählen. Er hätte noch am gleichen Tag seine Sachen gepackt und sei ein paar Wochen mit dem Autor durchs Land gefahren. Er war im Norden, an der Küste, hat manchmal im Auto übernachtet – trotz Kälte, ist viel im dritten Gang gefahren und auch mal im vierten. Irgendwann hat aber der Motor gestreikt, und dann ist er in dieses Haus gezogen, wo er seitdem ein einsames und bescheidenes Leben führt.

Er erzählt mit dieser leisen, tonlosen Stimme, die mir so vertraut ist. Ich muss für ein paar Minuten eingeschlafen sein, während er mir von einem Bild berichtete, das er auf dem Dachboden gefunden hat. Als ich einige Zeit später wieder aufwache, ist er immer noch an diesem Bild dran, beschreibt gerade alle darauf abgebildeten Personen, darunter ein Mann, der aus einer Luke aus dem Boden schaut.

Ein kalter Schauer durchfährt mich. Sofort bin ich wieder hellwach. Ein Mann schaut aus einer im Boden befindlichen Luke! Da haben wir es wieder. Was jetzt kommt, ist klar. Schließlich kenne ich meinen alten japanischen Freund seit Jahren. Immer wieder gerät er an solche Leute, immer wieder passieren ihm diese Geschichten.

Und natürlich bestätigen sich meine schlimmsten Vermutungen. Eine Glocke, die plötzlich jede Nacht läutet, eine Steinkammer unter der Erde, ein Mann dessen Gesicht im Nebel verschwimmt. Mit offenem Mund lausche ich seinen Erzählungen, wundere mich weder über die offenherzigen Details diverser erotischer Begegnungen noch über seine Passivität und Eigensinnigkeit. Das alles kenne ich zur genüge, und genau dafür liebe ich ihn.

Ein paar Stunden schon sitzen wir zusammen, als er seine Erzählung plötzlich unterbricht und mich fragt, ob ich Zeit hätte, im April noch einmal vorbei zu kommen. Dann würde er mir den Rest der Geschichte erzählen. „Aber…“ bricht es aus mir raus, „das geht nicht! Ich will doch wissen, wie es weiter geht“. Doch da war er schon aufgestanden, schob einen kleinen Teppichläufer zur Seite und verschwand in einer darunter verborgenen Luke im Boden.

Fortsetzung folgt.

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Foto: Gabriele Luger

Verlag: DuMont Buchverlag
475 Seiten, 26,00 €
Aus dem Japanischen übersetzt von Ursula Gräfe

 

10 Kommentare

  1. Sehr gut beschrieben, da finde ich mich als Besucher von Herrn Murakamis Welt sofort wieder – und falls du doch mal selber ein Buch schreibst, sag mir Bescheid! Das Buch spare ich mir noch auf, bis auch die Fortsetzung erschienen ist und ich gar nicht zwischendurch auftauchen muss 😉

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