Gunnar Kaiser – Unter der Haut (Hörbuch)

Bei Instagram habe ich gesehen, dass er im Moment mit seinen Schülern auf Klassenfahrt in London ist. Und ich denke, wie froh und stolz ich gewesen wäre, wenn ich damals so einen Lehrer gehabt hätte. So jung und cool, so klug und inspirierend – einen Lehrer wie Mr. Keating aus dem Club der toten Dichter. Einen, der junge Menschen in die Welt der schönen Künste und des Geistes einführt, ihnen kritisches Denken beibringt, sie mit seiner Begeisterung für Literatur und Philosophie ansteckt.

Und wie cool muss es sein, wenn dieser Lehrer auch noch Internet-Star und Schriftsteller ist? Wer im Netz unterwegs ist und sich für Literatur interessiert, kommt nicht umhin, den Gymnasiallehrer, Vlogger und neuerdings auch Schriftsteller Gunnar Kaiser zu kennen. Ich folge ihm auf Facebook, Twitter, Instagram und Youtube und bewundere ihn dafür, wie eloquent, flüssig und aus dem Stegreif er über die kompliziertesten Dinge sprechen kann. Sein Themenspektrum ist breit und reicht vom aktuellen Literaturdiskurs über zeitlos philosophische Fragestellungen bis hin zu aktuellen gesellschaftspolitischen Themen. Kein Thema ist ihm zu heiß; je kontroverser etwas diskutiert wird, desto mehr scheint es seinen stets wachen Geist zu reizen. Und zu allem Überfluss kann er auch noch begnadet gut schreiben.

So spannend, vielschichtig, fein- und freigeistig die Persönlichkeit des Autors ist, so kommt auch sein Debütroman „Unter der Haut“ daher. Ein Buch, das man so schnell nicht vergisst. Ein Buch, das mit allem aufwartet, was ein moderner Bildungsroman haben muss. Der Plot, das Setting, die Charaktere – alles perfekt durchdacht und hergeleitet und zu 100 Prozent authentisch. Der Aufbau, die verschiedenen Erzählstränge, die literarischen und zeitgeschichtlichen Bezüge – das ist alles schon ziemlich perfekt komponiert.

Ich habe das Romanmanuskript bereits vor knapp zwei Jahren gelesen, als es vom Kaffeehaussitzer Uwe Kalkowski für den Blogbuster-Preis nominiert und auf die Longlist gesetzt wurde. Schon damals war mir klar, dass dieser Text etwas ganz Besonderes ist und auch ohne den Blogbuster veröffentlicht werden wird — werden muss. Jetzt habe ich mir auch noch das Hörbuch angehört und bin noch einmal mehr davon überzeugt, dass es sich hierbei um das definitive Buch handelt. Perfekt bis ins Detail. So sehr ich mich auch bemühe, ich kann beim besten Willen keine Schwachstellen entdecken.

Der Roman hat drei Erzählstränge. Alle drei erzählen die Geschichte von Josef Eisenstein, eines neuzeitlichen Libertins, dem vielleicht letzten seiner Art. Der erste Strang spielt 1969 in New York, wo der schüchterne Literaturstudent Jonathan Rosen auf der Suche nach ersten Erfahrungen mit dem weiblichen Geschlecht eines Tages Eisenstein begegnet. Es ergibt sich eine Art Freundschaft, in der der alternde Dandy und Lebemann den jungen Jonathan in die Welt der schönen Dinge einführt. Als da wären: schöne Bücher und schöne Frauen. Der zweite Erzählstrang führt nach Weimar und Berlin, wo Eisenstein nach dem ersten Weltkrieg geboren und aufgewachsen ist. Der Judenverfolgung entgeht der vereinsamte und emotional vernachlässigte Junge durch einen Namenswechsel und entwickelt sich nach und nach zu einem bibliophilen Psychopathen, kriminellen Ästheten und skrupellosen Hedonisten. Und der letzte Strang führt uns ins Jahr 1990 über Israel, in die ehemalige DDR nach Argentinien, wo Jonathan hofft, seinen väterlichen Freund wiederzufinden.

Eine herrliche Geschichte, atmosphärisch dicht, sprachlich überzeugend und spannend bis zur letzten Seite. Ich habe mir zwar geschworen, den Vergleich zu Patrick Süskinds „Parfüm“ und Zafons „Schatten des Windes“ nicht zu bemühen, aber die Parallelen zu diesen Weltbestsellern sind einfach zu naheliegend, als dass man sie hier unerwähnt lassen könnte. Schnell steht der Vorwurf im Raum, der Autor habe aus dem Bestseller-Baukasten einen Erfolgsroman nach Schema F gezimmert. Doch „Unter der Haut“ ist mehr als nur eine spannende Unterhaltungsgeschichte für eine bibliophile Zielgruppe.

Es ist eine Auseinandersetzung mit dem Begriff der Freiheit. Der Freiheit des Geistes, der Möglichkeit, Dinge zu denken, ohne Einschränkungen und Grenzen. Das, was wir alle gerne könnten, uns aber entweder schon früh verbieten lassen oder selbst versagen. Und der Freiheit des Tuns, sich über alle Normen und Gesetze hinwegzusetzen, um den eigenen Gedanken Form zu geben, sie in die Tat umzusetzen, auch wenn man anderen dadurch die Freiheit raubt. Gerade in unserer heutigen, von engen Moralbegriffen wieder stark im Denken  eingeschränkten Zeit ist dies ein lohnendes und sehr spannendes Thema.

Fazit: „Unter der Haut“ ist der definitive Roman für alle bibliophilen Schöngeister, Freidenker und Genießer anspruchsvoller, gut gemachter Literatur, die einen sehr gut unterhält, aber weit davon entfernt ist, bloß Unterhaltungsliteratur zu sein.

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Foto: Gabriele Luger

Hörbuch: Hörbuch Hamburg Verlag (HHV)
Sprecher: Rheinhard Kuhnert und Julian Mehne
17 h, 24 Minuten
Erhältlich bei: audible (Hörprobe)

Print: Berlin Verlag
528 Seiten, 22,00 €

 

3 Kommentare

  1. Ja, Gunnars Buch habe ich auch gelesen. Rezension folgt. Logisch, da ja mehrfach mein Name darin vorkommt… Man könnte noch ergänzend erwähnen, dass Gunnar so dermaßen umtriebig und aktiv in den sozialen Medien ist, dass bisweilen der Verdacht aufkommen kann, dass es sich bei ihm gar nicht um eine einzelne Person, sondern um ein Kollektiv handelt…

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