Robert Menasse – Die Hauptstadt (Hörbuch)

Nicht immer war ich einverstanden. Doch im letzten Jahr schon. Da haben sie mal alles richtig gemacht, haben einen Roman prämiert, der, wie ich heute weiß, tatsächlich der beste des Jahres war. Denn darum geht es bei dem Wettbewerb. Nicht nur gut oder beliebt zu sein, sondern der Beste seiner Klasse. Dabei hat mich das Thema zunächst so gar nicht interessiert. Die europäische  Gemeinschaft, die Kommission, der Rat, das Parlament, Brüssel, ein alter Mann und ein Schwein. Also nein, beim besten Willen nicht. Ich war noch nie ein Fan von politischen Romanen. Und warum ein Schwein? Soll das etwa witzig sein?

Doch dann lachte mich das Hörbuch an. Du musst mich nicht lesen, flüsterte es mir zu. Hör mir einfach nur zu, solange du magst. Ein paar Minuten nur, vielleicht auch länger. Und dann entscheide, ob es dir gefällt, ob dir die Geschichte behagt, du Christian Berkels Stimme magst. Du weißt, das ist der Mann von der Sawatzki, der Kriminalist, immer Freitags im Zweiten – den magst du doch eigentlich, nicht wahr?

Und tatsächlich, den Berkel mag ich. Aber ich hätte nie gedacht, dass er so gut lesen kann. Was heißt gut? Ich habe ja jetzt schon jede Menge gute Sprecher erlebt und Berkel ist definitiv einer der Besten. Nicht so prägnant wie Brückner und Noethen, einer, der sich nicht so in den Vordergrund drängt, den Text nicht toppen will. Ein in meinen Ohren sehr angenehmer Erzähler, in einer Liga mit David Nathan und Frank Arnold.

Und dann Menasse. Ich bin so beeindruckt von seinem Stil, dass ich mir bei Medimops jetzt alle Backlist-Titel von ihm bestellt habe. Der schreibt ja tatsächlich noch besser als seine Halbschwester Eva. Wenn ich einen Stift und ein echtes Buch auf den Knien gehabt hätte, statt einer Audiodatei und zwei Knöpfe im Ohr, ich hätte mir auf jeder zweiten Seite Sätze dick unterstrichen: bemerkenswerte Aussagen, treffende Personenbeschreibungen und beindruckende Dialoge. Man müsste sich solche Passagen eigentlich sofort notieren. Denn jetzt, wo ich das niederschreibe und versuche, mich wenigstens an einen dieser gehörten Sätze zu erinnern, gelingt es mir nicht. Zu flüchtig ist das gehörte Wort, zu begrenzt mein mentaler Arbeitsspeicher.

Aber auch wenn die Details verschwimmen, der positive Gesamteindruck bleibt. Und der ist so stark, dass ich mir vorgenommen habe, diesen Roman auch noch mal als echtes Buch zu lesen. Ich freue mich jetzt schon darauf, all die bemerkenswerten Sätze dann wiederzuentdecken und für alle Ewigkeit mit Bleistift zu markieren. Freuen tue ich mich auch auf ein Wiedersehen und -lesen mit den Protagonisten der Hauptstadt, die Menasse sehr detailfreudig aufgebaut hat. Der KZ-Überlebende David de Vriend, die Europa-Beamten Martin Susmann und Fenia Xenopoulou, der pensionierte Ökonomie-Professor Alois Erhart oder der kranke Kommissar Emile Brunfaut – sie alle hat man nach wenigen Sätzen leibhaftig vor dem inneren Auge und für immer ins Herz geschlossen.

Ich könnte mir sogar einen Fortsetzungsroman à la Vernon Subutex oder Elena Ferrante sehr gut vorstellen. Denn die von der Romanfigur Alois Erhart formulierte Idee einer europäischen Hauptstadt, womit – soviel sei verraten – nicht Brüssel oder irgendeine andere europäische Metropole gemeint ist, hat jede Menge Potenzial und bietet genügend Stoff für mindestens noch zwei weitere Bände der Hauptstadt.

Man merkt sicher, dass ich von diesem Roman ziemlich begeistert bin. Weil ich schon lange nicht mehr ein so intelligentes, hochaktuelles, berührendes und gleichzeitig unterhaltsames Buch gelesen – pardon – gehört habe. Und das Bemerkenswerteste daran: Wenn ich jetzt Nachrichten über die EU sehe, höre oder lese, dann erreicht mich das ganz anders als vorher. Dann sehe ich hinter jeder Meldung Fenia, Martin und die ganze EU-Bürokratenschar – kleine, mittlere und große Rädchen im Getriebe der Macht.

Also, wenn Robert Menasse das hier lesen sollte: „Bitte schreiben Sie an der Hauptstadt weiter. Band 2 bestelle ich hiermit schon mal vor.“

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Foto: Gabriele Luger

Verlag: Der Hörverlag
Gesprochen von Christian Berkel
14 h, 18 Minuten
Erhältlich bei audible: (Hörprobe)

Verlag Print: Suhrkamp
459 Seiten, 24 Euro gebunden, 12,00 Euro Taschenbuch

 

1 Kommentar

  1. Hallo,

    letztes Jahr hatte ich vor der Verleihung die sechs der nominierten Titel gelesen, die mir am vielversprechendsten erschienen, und lag dabei voll daneben, denn „Die Hauptstadt“ war nicht dabei. Das Buch habe ich dann erst danach gelesen und es hat mir auch sehr gut gefallen, obwohl ich persönlich den Preis eher an „Walter Nowak bleibt liegen“ vergeben hätte. (Das flog allerdings schon vor der Shortlist raus.)

    LG,
    Mikka

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