Vergessen wir mal für einen Moment, wer Elena Ferrante ist. Lassen wir mal außer acht, dass sie mit Linu und Lila zwei unsterbliche Romanfiguren erschuf, deren Schicksal Millionen Menschen auf der ganzen Welt berührt hat. Ignorieren wir einfach die Tatsache, dass die vier Bände ihrer neapolitanischen Saga bereits jetzt zu den Klassikern der Weltliteratur gehören. Ja, nehmen wir an, wir könnten dieses Wissen einfach so beiseite schieben und völlig unvoreingenommen diesen kleinen Roman in die Hand nehmen und lesen. Was würden wir dann sagen?
Hätte dieses Romanmanuskript überhaupt einen Verlag gefunden? Wäre diese unfertige Fingerübung jemals außerhalb Neapels wahrgenommen, geschweigen denn übersetzt und in alle Welt verkauft worden? Wohl kaum. Denn so leid es mir tut, dieser Roman ist einfach nicht gut und hätte getrost weiter im Keller der vergessenen Backlist-Titel verbleiben können.
Aber natürlich kann keiner, der einmal mit dem #Ferrantefever infiziert war, der Versuchung widerstehen, nach einem Buch mit diesem Autorennamen zu greifen, es zu kaufen, zu lesen und es mit wohlwollender Nachsicht zu bewerten. Und natürlich ist es schön, überhaupt mal wieder in Neapel zu sein, auf den Straßen der Altstadt zu flanieren, sich die Auslagen in den Schaufenstern anzuschauen und diesen so merkwürdig vertrauten, leidenschaftlichen, impulsiv-grobschlächtigen, im Dialekt fluchenden Menschentyp wieder zu begegnen, der einen auf über 2000 Seiten so ans Herz gewachsen ist. Ja, das alles ist in „Lästige Liebe“ schon vorhanden, die schwüle Hitze der Stadt, die aus dem Fenster zeternden Mamas, die schmierigen alten Männer, wie Donato Sarratore, oder die aggressiven Jungspunde wie Michele Solara. Hier heißen sie Caserta und Polledro.
Ja, atmosphärisch ist einem das Setting schon sehr vertraut, man fühlt sich augenblicklich wohl, kuschelt sich ein und wartet darauf, eingesaugt und davon getragen zu werden, sich nochmal mit deutlich erhöhter Lesetemperatur dem Ferrantefieber zu ergeben. Aber nichts davon passiert. Hier und da flackert mal Wohlgefühl auf, aber dann humpelt und holpert es wieder dahin, verliert sich die Geschichte in wirren Reflektionen, Traumsequenzen und Rückblenden. Ich habe die letzten 50 Seiten nur noch quer gelesen und war froh, dass der Roman nur 200 Seiten umfasste und ich ihn nach zwei Tagen wieder ins Regal stellen konnte.
Dabei ist die Geschichte durchaus erzählenswert und auch voll im Trend, denn Mutter/Tochter-, Vater/Sohn-, Stiefvater/Stieftochter- und Familiengeschichten jeglicher Couleur stapeln sich geradezu im Neuheitenregal der Buchhandlungen. Irgendwie arbeiten sich alle gerade an ihren Eltern ab, laufen durch verlassene Wohnungen, ziehen Schubladen auf, kramen alte Brief-Bündel hervor und entdecken plötzlich verstörende Seiten an ihren engsten Angehörigen. So auch Delia, die nach dem Tod ihrer Mutter versucht, ihre letzten Tage und Wochen zu rekonstruieren und dabei immer weiter und tiefer in die verschütteten Untiefen ihrer gemeinsame Vergangenheit vordringt.
„Einer der fesselndsten, intensivsten Romane über Mütter und Töchter, die es gibt“, steht als Zitat aus „Le Monde“ auf dem Backcover. Das ist natürlich pure Verkaufsförderung und eine vollkommen subjektive und haltlose Behauptung, die in keinster Weise meinem Leseerlebnis entspricht. „Intensiv“ ist sowieso ein Begriff, der mich bei Buchbesprechungen aufhorchen und skeptisch werden lässt. Wie ein Immobilienmakler die direkte Nachbarschaft zur Autobahn gerne mal als verkehrsgünstige Lage tituliert, steht „intensiv“ im Feuilleton oftmals für eine wirre Introspektive, der man als Leser nur mit Mühe folgen kann. Hier hat sich das mal wieder bewahrheitet.
Und so muss ich leider sagen, dass „Lästige Liebe“ eine Lektüre war, die zwar an einigen Stellen den großen Wurf schon erahnen lässt, aber insgesamt doch eher enttäuschend und bei aller Nachsicht angesichts des großen Namens doch keine Leseempfehlung ist.
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Foto: Gabriele Luger
Verlag: Suhrkamp
206 Seiten, 22,00 Euro