Vea Kaiser – Rückwärtswalzer

Man tut diese Gattung allzu schnell als konventionell und rein unterhaltend ab, aber eigentlich ist das die Königsdisziplin der Literatur: der Familienroman. Wer als Schriftsteller oder Schriftstellerin unsterblich werden will, sollte in seiner Laufbahn wenigstens ein großes Familienepos geschrieben haben. Dann, ja nur dann besteht die Chance, einmal mit Fontane, Mann oder Fallada, Bronté oder Austen, Tolstoi oder Dostojewski in einem Atemzug genannt zu werden. Angesichts des schleichenden Bedeutungsverlusts der Literatur ist es sehr unwahrscheinlich, dass jemals noch ein zeitgenössischer Autor in die Hall of Fame der großen Romanciers einziehen wird, aber trotzdem: der Familienroman ist und bleibt die Messlatte.

Die Familie als Ursprung allen Seins – als Heimat, Kraftquelle, Sehnsuchtsort oder aber Trauma und Last – das war immer schon ein zentrales Thema in der Literatur. Selbst Homer erzählt in seiner Odyssee nichts anderes als eine Familiengeschichte. Aber im Moment trendet das Thema wieder ganz besonders. Wohin man auch schaut, alles dreht sich momentan um Blutsbande, das Vater-Mutter-Kind-Ding in unendlichen Variationen. Vielleicht ist dies der zunehmenden Alltagskomplexität geschuldet, der Auflösung vertrauter Konventionen und Rollenbilder. Vielleicht sind wir alle schlichtweg überfordert mit den gesellschaftlichen Veränderungen und schauen deswegen mit sehnsüchtigem Blick so gerne auf vermeintlich einfache Zeiten zurück.

Gerade hat Vea Kaiser ihren dritten großen Familienroman in Folge vorgelegt und wenn man sich vergegenwärtigt, dass die österreichische Autorin gerade mal 30 Jahre alt ist, ist das eine wahrhaft beeindruckende Leistung. Wenn man dann noch bedenkt, dass beide Vorgängerromane, sowohl Blasmusikpop als auch Makarionissi, internationale Top-Bestseller waren, die sich nicht nur exzellent verkauften, sondern auch von der Literaturkritik sehr wohlwollend aufgenommen wurden, wird man vielleicht erahnen können, unter welchem Erwartungsdruck die Autorin mit ihrem dritten Roman steht. Sie hat sich vier Jahre Zeit gelassen, nebenher noch ihr Alt-Griechisch-Studium abgeschlossen, den Mann fürs Leben gefunden und geheiratet, und jetzt betritt sie mit „Rückwärtswalzer“ wieder die große Bühne. Und wer sie einmal live erlebt hat, weiß, dass sie genau dahin gehört. Vea Kaiser ist eine literarische Rampensau, die übersprudelnd und mit weit ausholenden Gesten ihre Zuhörer in den Bann zieht. Eine ihrer Lesungen sollte man sich daher nicht entgehen lassen.

Doch kommen wir zu Rückwärtswalzer. Um es gleich vorwegzunehmen: Sie hat wieder abgeliefert. Großes Vea Kaiser-Familienepos Nr. 3 – und mit Sicherheit ein Bestseller in spe. Handwerklich gekonnt, emotional bewegend, pageturnend. Tolle, liebevoll skizzierte Charaktere, die wir Leser von der Wiege bis zur Bahre begleiten dürfen; von Montenegro nach Österreich und wieder zurück, vom Bauernhof in die Stadt, in Beziehungen hinein und wieder hinaus. Über Jahrzehnte beschreibt sie die Geschicke der Familie Prischinger. Fünf Geschwister, die in den vierziger und fünfziger Jahren auf einem Landgasthof aufgewachsen sind. Einer stirbt, die anderen wachsen heran, ziehen aus, machen alle auf ihre Art mehr oder weniger ihr Glück, verlieren sich aber nie aus den Augen und zumindest die drei Schwestern Mirl, Hedi und Wetti kommen in der Mitte ihres Lebens wieder zusammen. Ab da hängen sie tagein und tagaus bei Kaffee und Kuchen, panierten Schnitzeln, Tafelspitz, Grießnockerlsuppe und Kaiserschmarrn in Mirls oder Hedis Küche zusammen – streitend, lamentierend, aber wenn es drauf ankommt, stehen sie zusammen. Und dann is da noch ihr Neffe Lorenz Prischinger, semi-erfolgreicher Schauspieler in einer Schaffenskrise und dadurch in akuter Finanznot. Er zieht vorübergehend bei seinen Tanten ein, und gemeinsam erfüllen sie dem plötzlich verstorbenen Onkel einen letzten Wunsch, indem sie seinen Leichnam in seinen Geburtsort nach Montenegro transportieren. Und wer Ende der Achtziger die US-Kömödie „Immer Ärger mit Bernie“ gesehen hat, wird jetzt vielleicht erahnen, wie sie das gemacht haben.

Und obwohl ich erst dachte, jetzt bricht es, jetzt driftet die Geschichte ins slapstickhafte ab, fängt die Autorin das erzählerisch gekonnt auf und lässt es nicht ins allzu Humoreske entgleiten. Ok, am Ende wird es dann noch ein wenig kitschig, aber nur ein ganz kleines Bisschen. Das Happy End ist für meinen Geschmack ein wenig zu sehr Hollywood, aber auch das verzeiht man der Autorin nach über 400 Seiten hochmeisterlich erzählter Prosa allzu gerne. Ich glaube, Vea Kaisers Stärke ist, dass sie zu hundert Prozent in ihrer Geschichte ist, nicht irgend etwas fabuliert, antizipiert und sich auch nicht einfach nur in ihre Figuren hineinversetzt. Nein, im Moment des Erzählens ist sie tatsächlich jede einzelne Person ihres Romans – der Willi, der Lorenz, die Mirl und natürlich die Hedi. Und daher freue ich mich schon sehr, sie in Leipzig beim Lesen aus ihrem neuen Roman zu erleben, mit diesem typischen Wiener Timbre, übersprudelnd und mit weit ausholenden Gesten.

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Foto: Gabriele Luger

Verlag: Kiepenheuer & Witsch
432 Seiten, 22,00 Euro

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