Ich fand schon seinen letzten Roman richtig toll. Und auch sein neuer ist ziemlich gut, nicht unbedingt besser als „Der Abfall der Herzen“, ganz anders konstruiert, kein Coming-of-Age in der westdeutschen Provinz, sondern durch und durch Hauptstadt, erwachsen und aller Unschud beraubt. Aber so unterschiedlich dieser und sein letzter Roman auch sind, so unverkennbar sind doch beide echte Nagelschmidts.
Müsste ich den Erzählstil dieses Autors mit nur einem Wort beschreiben, würde ich mich für ‚lässig‘ entscheiden. Ja, ich glaube, das trifft es ziemlich gut. Nicht angestrengt und bemüht, sondern locker aus der Hüfte. Nicht fleißig recherchiert, sondern selbst erlebt. Nicht auf cool gemacht und akademisch, keine Schreibschule aus Hildesheim oder Leipzig. Nein, Nagelschmidts Stil ist frei von allem Pseudotum. So kann nur einer schreiben, der nicht so tut, als wäre er cool, sondern es tatsächlich auch ist. Oder anders ausgedrückt: lässig.
Als ich noch regelmäßig nachts unterwegs war, in Clubs, die damals noch Diskos hießen, habe ich diese lässigen Typen immer bewundert. Obwohl ich nie ein Wort mit ihnen gewechselt habe, kannte ich ihre Namen, denn sie waren entweder Sänger und Gitarristen einer kreisbekannten Indie-Band oder Redakteure eines lokalen Veranstaltungsmagazins. Und natürlich immer umringt von anderen coolen Typen und den interessantesten Mädchen, während Random-Typen wie ich verstohlene Blicke riskierten und einsam und frustriert an ihrer Cola nippten. Und ich glaube, nein, ich bin überzeugt: Thorsten Nagelschmidt – seines Zeichens nicht nur Schriftsteller, sondern auch noch Sänger der semi-erfolgreichen Band Muff-Potter – ist genau so ein Typ.
Mittlerweile bin ich alt genug, dass ich solchen Menschen neidlos begegnen kann und bereit bin, ihr Talent – wenn denn vorhanden – vorbehaltlos anzuerkennen und zu huldigen. Es gibt ja so einige Indie-Band Sänger, die sich als Romanautoren versucht haben und durchaus erfolgreich sind. Allen voran Sven Regener, der wohl bekannteste und profilierteste Singer/Bookwriter, oder auch Thees Uhlmann, Dirk von Lowtzow, Hendrik Otremba und Bela B. Obwohl Regener mit Bestsellern wie „Herr Lehmann“ und „Neue Vahr Süd“ uneinholbar weit vorne liegt, ist ihm Nagelschmidt dicht auf den Fersen und für mein Empfinden literarisch deutlich überlegen. Und wenn ich schon dabei bin, zu vergleichen, dann möchte ich gleich noch ein paar Namen ähnlich lässiger Autoren und Autorinnen nennen: Virgenie Despentes, Jörg Fauser und Wolfgang Welt – alle haben diesen ganz speziellen, reflektierten Szene-Sound, der auch Nagelschmidts Werk auszeichnet.
Kurz ein ein paar Worte zum Plot. ‚Arbeit‘ ist ein Episodenroman, erinnert mich von der Konstruktion ein wenig an Hank Zerboleschs Antiroman Raw, wo die Protagonisten einer vorhergehenden Episode in einer der nächsten als Neben- und Randfiguren wieder auftauchen. Nagelschmidt beschreibt das Berliner Nachtleben, beleuchtet zwölf Stunden eines beliebigen Tages und begleitet die Protagonisten seiner Episoden von 18.00 bis 06.00 Uhr morgens durch die Kreuzberger Nacht. Aber nicht die Partys und das Treiben in den Szeneclubs sind sein Thema, sondern die Menschen, die Nachts unterwegs sind, um zu arbeiten. Drogendealer, Taxifahrer, der Rettungsdienst, die Polizeistreife, Kiosk-Betreiber, Lieferando-Fahrradkuriere, Pfandflaschensammler, der Nachtportier im Hostel, der Türsteher vor dem Techno-Club und die Frau von der BSR, die mit ihrer Küpperweiser-Straßenreinigungsmaschine die Überreste der Nacht zusammenkehrt.
Es gehört schon was dazu, einen Roman mit so vielen handelnden Figuren zu konstruieren, ohne die Leser zu verwirren oder zu ermüden. Mit wenigen Sätzen gelingt es Nagelschmidt, die Charaktere zu umreißen und das Episodensetting zu skizzieren, ohne den Erzählfluss zu unterbrechen oder Tempo zu verlieren. Man ist in jeder Geschichte sofort drin und freut sich, wenn man plötzlich Figuren vorheriger Kapitel wiedererkennt – die Flaschensammlerin und die beiden österreichischen Girlies aus dem Hostel, den Taxifahrer, die Rettungssanitäterin – und so setzt sich die Szenerie aus vielen kleinen Versatzstücken zu einem großen, beeindruckenden Gesellschaftsportrait zusammen.
Und trotz seiner komplexen Eipsodenkonstruktion, wirkt nichts an diesem Roman konstruiert. Alles ist stimmig und authentisch: das Kreuzberger Setting, die Sprache, die Arbeitsabläufe der Nachtarbeiter. Ich kann ich das insofern beurteilen, als ich selber mal in Berlin am Hermannplatz gelebt habe, auch mal Rettungsdienst und Taxi gefahren bin und während des Studiums als Nachtwächter und beim Winterdienst gearbeitet habe. Auch deswegen habe ich mich in diesem Buch sofort wohl und heimisch gefühlt und kann jedem dieses außergewöhnliche Leseerlebnis nur wärmstens empfehlen.
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Verlag: S. Fischer
334 Seiten, 22,00 €