Dieser Mann ist weltberühmt, seine Bücher sind in zig Sprachen übersetzt und globale Bestseller. Und was macht so ein Mensch, wenn er mit 64 Jahren auf sein bedeutendes Leben zurückblickt? Keine eitle Nabelschau, kein Namedropping, keine Auflistung seiner größten Erfolge auf dem Weg in den Bestseller-Olymp. Nein, er schaut auf seine Hände und zählt auf, was sie in all den Jahren schon angefasst, gehalten, gehoben, gewiegt, geschmiegt, berührt und gestreichelt haben. Wie viele andere Hände er mit ihnen schon geschüttelt, wie viele Türklinken er gedrückt, Zigaretten angesteckt und Telefonhörer abgenommen hat; wie oft er sich damit am Kopf und auch am Hintern gekratzt hat. Er erinnert sich an Mädchen und Frauen, die er geküsst, Wohnungen, in denen er gewohnt hat, Länder, in die er schon gereist ist. Und wo er war, als Oma und Opa, sein Vater und seine Mutter gestorben sind und als die Flugzeuge in die New Yorker Zwillingstürme krachten.
Eine Handvoll prägender Momente auf der einen Seite und unzählige Alltäglichkeiten, Begegnungen und ein großer Batzen erinnerungsloser Zeit auf der anderen – so geht Leben. Deins, meins, und auch das von Paul Auster. Ein Leben, an dem er die Leser dieses Buches in allen Nebensächlichkeiten teilhaben lässt. Mittlerweile ist Auster nochmal zehn Jahre älter und erfreut sich meines Wissens immer noch bester Gesundheit. Und doch ist Winter Journal schon so etwas wie ein Vermächtnis. Ob mit 64, 74 oder 84 Jahren – was am Ende übrig bleibt, sind ein paar Erinnerungsschnipsel und Bilder, die als Film in Fast-Forward vor deinem inneren Augen ablaufen, während du auf das grelle Licht am Ende des Tunnels zugehst. Leben heißt zurücklassen. Orte, Menschen, Tätigkeiten. Das Einzige, das bleibt, bist du. Dein Körper, alt und krumm, mit Narben auf der Haut und der Seele.
Wir alle kennen das, wenn wir Fotos aus vergangenen Tagen betrachten. Das Erste, was uns ins Auge sticht, sind wir selbst. Nichts interessiert und fasziniert uns so sehr, wie wir selbst. Wie wir uns verändert haben, was die Zeit mit uns gemacht hat, und wie wir aus heutiger Sicht unser Ich von damals betrachten. Das ist weder hedonistisch, noch egoman – das ist einfach nur menschlich und natürlich. Auster hat das alles aufgeschrieben, hat haarklein beschrieben, was er in seinem Leben zurückgelassen hat und welche Narben geblieben sind. Menschen, Orte und Tätigkeiten, die ihn eine Zeit begleitet haben und die ohne dieses Buch irgendwann vergessen und spurlos verschwinden würden.
Und natürlich beschäftigt auch Auster die Frage, die sich früher oder später jeder stellt: Bist du zufrieden mit deinem Leben, war es die ganzen Anstrengungen überhaupt wert? Nach Alfred Adler, dem berühmten Psychotherapeuten, ist es rein gar nichts wert, wenn kein anderer als du selbst, es mit Bedeutung und Emotion auflädt. Wenn du nichts in anderen Menschen hinterlässt, wenn keiner sagt: Dieser Mensch hat mich beeindruckt. Seine Texte, seine Gedanken, sein auch im Alter noch volles Haar. Wenn nur du allein, dich gut findest und kein anderer – dann ist das alles gar nichts wert, dann bist du nicht mehr als ein Max Mustermann, ein leeres Abziehbild der Bedeutungslosigkeit.
Ein Schicksal, was Paul Auster niemals treffen wird. Denn er hat eine Menge bedeutender Romane geschrieben und damit viele Menschen beeindruckt und geprägt. Aber vor allen Dingen hat er ‚Winter Journal‘ geschrieben und damit reinen Tisch gemacht. Mit der Vergangenheit, mit dem Bild seiner selbst, mit dem Mythos, dem er nicht entsprechen wollte.
Und so bleibt mir nur, die letzten Sätze aus diesem Buch zu zitieren, die da lauten:
„Deine nackten Füße auf dem kalten Boden, wenn du aus dem Bett steigst und zum Fenster gehst. Du bist vierundsechszig Jahre alt. Draußen ist alles grau, fast weiß, die Sonne nicht sichtbar. Du fragst dich, wieviele Morgen bleiben noch? Eine Tür ist zugefallen. Eine andere Tür hat sich geöffnet. Du bist im Winter deines Lebens eingetreten.“
Ich persönlich bin momentan erst im Herbst meines Lebens und habe noch ein wenig Zeit – wenn alles gut läuft. Vielleicht.
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Foto: Gabriele Luger
Verlag: Rowohlt Taschenbuch
Übersetzt von: Werner Schmitz
256 Seiten, 12,00 €
Übrigens, bei ARTE gibt es ein sehr sehenswertes Autorenportrait von Paul Auster. Kann ich nur empfehlen.
ein ganz Großer, sehr sympathisch! Dieses Buch steht noch ungelesen im Regal, auch sein letzter dicker Wälzer „4321“ wartet noch gelesen zu werden. Schön, dass du an den wunderbaren Arte-Film erinnerst. Ich finde auch sein Schaffen in Beziehung zu seiner Frau sehr interessant. Viele Grüße
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Ja, seine Frau ist auch in Winterjournal sehr präsent und ich finde es toll, mit wieviel Liebe und Hochachtung er von ihr spricht. Und 4321 werde ich mir wohl mit in den Sommerurlaub nehmen.
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Es gibt Bücher, die man schon so lange lesen möchte, dass das ‚Lesenmöchten‘ sich als Status Quo festfrisst, ohne dass man den Schritt zum ‚Lesen‘ endlich mal tut…
Diese Rezension lässt mich mich fragen: WIESO habe ich das Buch nochmal bisher nicht gelesen?! Das muss ich wirklich endlich mal ändern. Genauso mit „4321“, das wartet auch schon zu lange.
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