Als ich diesen Roman zum ersten Mal in den Händen hielt und auf der Rückseite den Satz las „vom Meister des poetischen Schreckens“, fragte ich mich wieder einmal, was wohl zuerst da war: der Roman oder sein Klappentext? Manche Bücher sind so nach Schema F auf Bestseller getrimmt, dass sich diese Vermutung geradezu aufdrängt.
Ich stelle mir den jungen John Burnside vor, wie er als Autor mit seinem ersten Manuskript bei einem Literaturagenten im Büro sitzt. „Ich habe ihr Buch gelesen“, sagt der Agent. „Es gefällt mir gut, aber ich sehe keine Chance, es bei irgendeinem Verlag unterzubringen“. Burnside ist geschockt. Damit hat er nicht gerechnet. Warum hat ihn der Agent dann überhaupt zu einem Termin gebeten? Für eine Absage hätte doch auch ein Formschreiben gereicht. Er blickt den Agenten fragend an. Der lächelt und sagt: „Aber mit diesem Namen können sie ganz groß rauskommen“. „Mit welchem Namen?“ fragt Burnside verwirrt. „Na, mit Ihrem Namen – John Burnside! Das hat Potenzial, das klingt nach großer Auflage. Der neue Roman von John Burnside, dem Meister des poetischen Schreckens. Wie finden sie das?“
„Na ja, prinzipiell nicht schlecht“, meint Burnside, „aber das bin ich doch gar nicht“. „Dann werden Sie es!“ entgegnet der Agent. „Wenn Sie aus diesem Namen nichts machen, sind Sie selber Schuld. Ich kaufe Ihnen den zur Not auch ab und mache einen anderen zum Meister des poetischen Schreckens. Wollen Sie das?“
Natürlich will Burnside das nicht. Ein anderer unter seinem Namen erfolgreich? Seinen Traum, ein erfolgreicher Schriftsteller zu sein, für ein paar Pfund einfach so jemand anderem überlassen? Nein, niemals – „was muss ich machen?“, fragt der junge Autor seinen Agenten.
„Fangen Sie noch mal ganz von vorne an“, meint der Agent. „Das ursprüngliche Thema ist gar nicht so schlecht. Die Rolle der Sprache und ihre Auswirkung auf menschliches Denken und Vorstellung ist ein interessantes Thema. Aber nicht so wissenschaftlich trocken wie Sie es aufgezogen haben. Sprache wird erst interessant, wenn sie fehlt, und zwar nicht einfach so, sondern dem Menschen vorenthalten oder genommen wird. Ich stelle mir eine verstörende Grenzerfahrung vor, ein grausames Experiment, einen gefühlskalten Psychopathen. So etwas verkauft sich immer gut. Oder noch besser: Schrecken mit literarischem Niveau, sozusagen poetischer Schrecken, das wäre ein ganz neues Label. Leser, denen ein Simon Beckett zu profan ist, ein Bret Easton Ellis aber schon wieder zu abgehoben. Ich könnte mir vorstellen, dass ein John Burnside gut diese Lücke füllen könnte. Ein wenig Splatter, nackte Gewalt und grenzüberschreitende Brutalität eingepackt in philosophische Überlegungen.
Warum machen Sie daraus nicht einen Entwicklungsroman? Mit so einem Typ à la Norman Bates. Sie wissen, schon: Psycho! So mit Ödipus-Komplex, einer dominanten Mutter, die zwar schon lange tot ist, aber immer noch im Haus herumspukt. Ich könnte mir erste Experimente mit Tieren vorstellen, erst tote Tiere, dann lebende Tiere, dann schließlich die ersten Experimente am Menschen. Vergessen Sie aber nicht Ihr Thema, die Sprache – darauf muss alles immer wieder hinauslaufen. Was passiert, wenn uns die Sprache genommen wird? Schweifen Sie ruhig ein wenig ab, bauen Sie Ihre Spinnereien zu einem Theorie-Konstrukt aus. So wie Laurence Fishburne, der im dritten Teil die komplexe Struktur der Matrix erklärt. Völliger Schwachsinn, aber das lieben die Leute. Sie wollen geschockt, emotional gekitzelt und gleichzeitig intellektuell gefordert werden. Und natürlich muss am Ende alles offen bleiben für eine Fortsetzung. Da können wir eine Reihe von sechs bis zehn Romanen draus machen. Die Filmrechte verkaufe ich an HBO, die machen daraus eine CSI-Serie mit drei oder vier Staffeln. Oder auch fünf“.
Ich weiß nicht, ob so ein Gespräch zwischen John Burnside und seinem Agenten jemals stattgefunden hat. Ich weiß noch nicht einmal, ob John Burnside überhaupt einen Agenten hat. Fakt ist aber, dass er genau so seinen Roman geschrieben hat. Haus der Stummen – poetischer Schrecken nach Schema F.
Titelfoto: Gabriele Luger
Ich halte John Burnside ja für einen der größten europäischen Autoren überhaupt. Dieses Buch wurde wohl mehr der Vollständigkeit halber veröffentlicht, immerhin ist es eigentlich sein Debüt und auch mit Abstand sein schwächstes Buch. Die Idee mit dem Gespräch ist nett, aber es ist sehr zu bezweifeln, dass so ein Gespräch stattgefunden hat. „The Dumb House“ erschien beispielsweise zwei Jahre vor „Matrix“ und „CSI“ lag damals noch in weiter Ferne.
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