Die Gedanken sind frei

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Ulla Lenze – Die endlose Stadt.

Um mal mit einem Kritikpunkt anzufangen: Ich lese im Klappentext, dass die Autorin zwei gesponserte Auslandsaufenthalte hatte, einen in Istanbul und einen in Mumbai. Und genau in diesen beiden Metropolen spielt zufälligerweise auch die Handlung dieses Romans. Natürlich könnte ich denken, dass sie die Orte, über die sie schreibt, dann wohl gut kennt. Denke ich auch. Ich denke aber auch, dass mir das ein wenig zu zwangsläufig ist. Stand das so im Vertrag? Oder ist das ein kleines Dankeschön an die Sponsoren? Und wohin wird sie als nächstes eingeladen? Nach Wanne-Eickel oder Duisburg? Und wird dann der nächste Roman von Ulla Lenze vielleicht ein Ruhrgebietsroman?

Doch jetzt höre ich mich schon an wie ein prinzipienreitender Weltverbesserer. Das bin ich überhaupt nicht und eigentlich stört mich auch gar nicht, dass Ulla Lenze über Orte schreibt, die sie gut kennt – woher und aus welchem Grund auch immer. Und wenn so ein Auslands-Stipendium dafür sorgt, dass die guten jungen Autoren mal aus Berlin rauskommen und damit auch Berlin aus ihren Köpfen und Geschichten, dann hat sich die Investition doch schon gelohnt.

Aber warum gehe ich überhaupt darauf ein? Weil genau das eines der zentralen Themen dieses Romans ist. Die künstlerische Abhängigkeit von Auftraggebern, Kunden und Sponsoren. Das ist es, was beide Protagonistinnen dieses Romans umtreibt. Als da wären: die Malerin Holle und die Journalistin Theresa. Holle lernt während eines Istanbul-Stipendiums den Topmanager und Kunstsammler Wanka kennen, der ihr ein paar Bilder abkauft und die Möglichkeit verschafft, in Mumbai auf Kosten seiner Firma und mit einem kleinen Taschengeld ausgestattet zu malen. Holle ist hin und her gerissen, fühlt sich gleichzeitig angezogen und abgestoßen von ihrem Mäzen. Sie ist verwirrt und weiß sich nicht zu verhalten. Was erwartet er von ihr? Interessiert Wanka sich nur für ihre Kunst? Oder begehrt er sie auch als Frau? Und was will sie selber? Als Frau an seiner Seite wäre sie mit einem Schlag alle existenziellen Sorgen los. Sie könnte sich ganz ihrer Kunst widmen. Doch stattdessen flüchtet sie in die Arme des schönen, aber einfach gestrickten Celal, einen Dönerbuden-Besitzer aus Istanbul.

Während Holle sich vor Wanka in Istanbul versteckt, zieht Theresa als Untermieterin in ihre Wohnung in Mumbai ein. Auch sie befindet sich als Journalistin im ewigen Dilemma der Auftragsabhängigkeit. Ihre Kunden wollen genau die Bilder und Geschichten, für die sie gebucht wurde. Wenn sie diese Erwartungen nicht erfüllt, dann ist sie raus.

Soweit in groben Zügen die Rahmenhandlung. Im Klappentext hat der Berliner Autor David Wagner sehr treffend die Lesestimmung auf den Punkt gebracht: „Ulla Lenze schreibt eine tolle empfindungsintensive, pathosfreie Prosa… echt und wahr und ehrlich.“ Genauso habe ich die Lektüre auch empfunden. Als Leser begleiten wir leichten Schrittes die beiden Heldinnen durch Istanbul und Mumbai. Es macht einfach Spaß diesen Roman zu lesen, denn nichts wirkt gekünstelt und aufgesetzt. Ulla Lenze kennt sich aus – in Instanbul und Mumbai und scheinbar auch mit den Problemen ihrer beiden Protagonistinnen.

Ich stelle mir vor, wie Ulla Lenze in ihrer vom Goethe-Institut gestellten Autorenwohnung in Mumbai saß und darüber nachdachte, was man wohl von ihr erwartete. „Lassen Sie sich inspirieren, schreiben sie.“ Aber worüber schreiben? Ist sie wirklich vollkommen frei? Es gibt keine Auflagen, aber vielleicht doch geheime Erwartungen – unausgesprochen und unterschwellig. Kann man einfach so in Mumbai am PC sitzen und den zweitausendsten Berlin-Roman schreiben? Könnte man natürlich, aber dann ist es halt fad, beliebig, die Inspiration verpufft.

Wie wäre es denn mit einer Geschichte, die in Istanbul, Mumbai und Berlin spielt und der Frage nachgeht, welche Lieder man singen sollte, wenn man nicht sein eigenes Brot isst? Perfekt!

7 Kommentare

  1. Meine Rezension steht noch an, aber unsere Leseeindrücke scheinen sich auch hier wieder weitgehend zu decken. Interessantes Thema, spannende Schauplätze, gelungene Komposition. Nur mit den beiden Frauenfiguren, allen voran Holle, wurde ich leider nicht ganz warm.

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    1. Hallo Caterina,
      wenn das so weiter geht, dann können wir unsere beiden Blogs auch zusammenlegen. Zwei Blogger – eine Meinung. 😉

      Doch in einem Punkt muss ich Dir widersprechen. Denn ich fand Holle ja ganz wunderbar, konnte mich sehr gut in sie hineinversetzen und bin sehr warm mit ihr geworden. Ganz besonders gelungen fand ich die Szene, als sie bei Wanka im großen Bett lag, ins Dunkle starrte und wartete. Theresa fand ich dagegen etwas farblos.

      LG Tobias

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      1. Dass Theresa etwas farblos ist, finde auch ich. Ich würde sogar so weit gehen, zu fragen, ob es ihre Perspektive, ihren Teil der Geschichte überhaupt braucht. Meine Lektüre ist bereits einige Wochen her und Theresas Part verblasst mehr und mehr, während Holle präsent bleibt (ob nun sympathisch oder nicht 😉 ).

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      2. Dass du nach so langer Zeit überhaupt noch über die Bücher schreiben kannst. Nach ein paar Wochen bin ich nur noch zu Ein-Satz-Rezensionen auf BookSentence fähig.

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      3. Ich gestehe, dass ich mich dabei sehr quäle und vieles noch mal nachsehen muss. Aber der Abstand ist auch gut, man kann das Urteil noch mal überprüfen, das man unmittelbar nach der Lektüre gefällt hat.

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