Schon wieder ein Rowohlt-Buch mit einem Zitat von Jonathan Franzen auf dem Backcover. Und nicht nur das, diesmal hat er auch noch ein Vorwort geschrieben. Macht er das eigentlich freiwillig oder ist das eine Klausel in seinem Verlagsvertrag? Sein Wort hat schon Gewicht und kann sicherlich dem einen oder anderen hier unbekannten US-Autor auf die Sprünge helfen. Aber nachdem ich bei Nell Zink schon darauf reingefallen bin, habe ich diesmal eher skeptisch auf seine Empfehlung reagiert. Das Vorwort habe ich nur angelesen, denn je mehr ich davon las, desto weniger Lust hatte ich auf diesen Roman. Überhaupt Vorworte – ist das nicht irgendwie Achtziger?Aus einer Zeit, als es noch unangreifbare Autoritäten gab und so etwas wie Respekt vor einer Lebensleistung. Da hat man sich nichts dabei gedacht, wenn einem ein angesehener Autor erklären wollte, was für ein Meisterwerk man hier gerade in den Händen hält. Doch heutzutage will das der Leser lieber selber beurteilen.
Ich zumindest habe mich getraut, ohne die einführenden Erläuterungen des Großmeisters in diesen merkwürdigen Roman einzusteigen. Donald Antrim ist mir bisher überhaupt kein Begriff gewesen, also konnte ich eigentlich ziemlich vorurteilsfrei starten. Doch natürlich habe ich mich aufgrund der Zeilen auf dem Klapper schon auf ein eher befremdliches Lesevergnügen eingestellt. Und genau das war es auch. Hat Samuel Beckett eigentlich jemals einen Roman geschrieben? Ich weiß gar nicht, aber wenn, dann wäre der sicherlich ähnlich befremdlich wie ‚Die hundert Brüder‘ ausgefallen. Denn wie Beckett baut auch Antrim ein ziemlich absurdes Szenario auf. 100 Brüder – das allein ist schon vollkommen unvorstellbar – treffen sich zu einem Fest in der alten Bibliothek ihres Vaters zu einem … ja, zu was eigentlich? Irgendein Jahrestag wird es wahrscheinlich sein. Das habe ich jetzt mal angenommen, denn es gibt diverse Rituale, daher werden sie sich wohl öfter dort versammeln.
Überhaupt muss man sich bei diesem Roman ziemlich viele Dinge selber zusammenreimen. Denn Antrim erklärt nicht viel. Weder wie ein einziger Mann 100 Söhne gezeugt haben kann, noch wann und wo die Szenerie angesiedelt ist. Die Bibliothek scheint riesig zu sein. Die ganze Handlung spielt an einem Abend in diesem Raum. Ein ziemlich surrealer Ort, durch den Hunde und Fledermäuse streifen und wo ab und zu mal einer der Brüder bewegungslos auf dem Boden liegt. Man kann sich in den unzähligen Regalreihen verirren, bei manchen Sachgebieten ist bereits Wasser durch die marode Decke gekommen und hat einen Teil des Bibliotheksbestandes zerstört. Wenn man aus dem Fenster schaut, sieht man die Lagerfeuer von Obdachlosen, die vor dem Anwesen campieren. Die 100 Brüder kennen sich scheinbar recht gut, zumindest kennen sie alle ihren Bruder Doug, den Erzähler dieser Geschichte, der uns alle Figuren vorstellt, ihre Charaktereigenschaften, ihre Marotten, Eigenarten und Beziehungen zueinander.
Ich kann mir vorstellen, dass bei dieser Beschreibung einige schon abwinken und meinen, das wäre nichts für sie. Das Buch ist zwar seltsam, ohne richtigen Plot, voller skurriler und merkwürdiger Charaktere, rätselhaft und überhaupt nicht spannend – aber trotzdem liest es sich leicht und unterhaltsam. Ich habe meinen Spaß an den vielen kleinen Details gehabt. Man hat das Gefühl, jedem der Brüder schon mal begegnet zu sein, so sehr ähneln sie Typen, die wir alle kennen. Ich will jetzt nicht den gleichen literaturwissenschaftlichen Bogen spannen, wie Franzen es in seinem Vorwort macht und überall Bezüge herstellen. Aber wer Spaß daran hat, kann das natürlich tun und in dem gesamten Szenario eine Anspielung auf den Untergang des Bildungsbürgertums sehen. Hält uns Antrim nicht den Spiegel hin? Und mit „uns“ meine ich die heterogene Erbengeneration, die mehr mit sich selbst zu tun hat, als sich um den Erhalt irgendwelcher Werte zu kümmern. Und als zusätzliche Bedrohung steht das Prekariat schon vor der Tür. Ja, dieser Roman ist voller Bezüge, und ich kann mir sehr gut vorstellen, dass sich ein Proseminar über zeitgenössische amerikanische Literatur mit diesem Roman ein ganzes Semester lang beschäftigen kann.
Aber unabhängig davon ziehe ich bei jedem Buch immer auch mein ganz persönliches Lesefazit. Und das hat in diesem Fall gestimmt. Ich fühlte mich bei der Lektüre auf eine sehr angenehme Art gefordert, musste mich konzentrieren, stellenweise auch zum Weiterlesen motivieren. Aber immer hatte ich das Gefühl, Antrim bemüht sich, mich als Leser nicht zu verlieren, sorgt in dem von ihm konstruierten Wahnsinn hin und wieder für Momente der Klarheit, wie Rettungsinseln auf die man flüchten kann, etwas verschnaufen und nachdenken, bevor man sich wieder ins Wortgetümmel stürzt. Am Ende legt man es aus der Hand und muss sich erstmal schütteln, ein paar Runden um den Block laufen, um den Kopf wieder klar zu bekommen. Aber was bleibt ist ein Art inspirierende Konfusion und das Gefühl, gerade etwas ganz Besonderes gelesen zu haben.
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Titelfoto: Gabriele Luger
Verlag: Rowohlt Taschenbuch Verlag
216 Seiten, 12,99 €
Übersetzung: Gottfried Röckelein
Hab ich auch gerade am Wickel und bin begeistert. Sehr empfehlenswert auch: WÄHLT MR. ROBINSON FÜR EINE BESSERE WELT.
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