Aljoscha Brell – Kress

 

Ich weiß nicht, ob ich Bücher, auch wenn sie mir gut gefallen haben, unbedingt so weiterempfehlen sollte. Denn oftmals sind es ganz persönliche Präferenzen, individuelle Erlebnisse und Erinnerungen, die mich mit einem Buch verbinden und die Lektüre zu einem ganz besonderen Leseerlebnis machen – für mich. Ein anderer Leser, mit anderen Präferenzen und einer anderen Vita hat natürlich auch andere Assoziationen und kommt zwangsläufig zu einem ganz anderen Ergebnis. Gibt es bei Büchern überhaupt ein nicht subjektives Urteil?

Also, ich finde den Debütroman von Aljoscha Brell ja ziemlich klasse und habe ihn mit großem Vergnügen gelesen. Aber empfindet das auch jemand, der keine Berlin-Romane mag? Oder schräge, nerdige Akademiker mit gestelzter Sprache? Der nicht auch Typen kennt, die genauso steif und voller Komplexe durchs Leben stolpern wie der Held in diesem Roman? Empfindet man die Lektüre anders, wenn man nicht – wie ich – den Autor auf einer Lesung erlebt hätte, wo er durch eine mitreissende Vortragstechnik sein Publikum begeisterte? Ich weiß es nicht.

Kress ist ja schon knapp ein Jahr auf dem Markt und hat nicht besonders viel Aufmerksamkeit bekommen. Eigentlich ist das Buch schon durch, wird in ein paar Monaten auf dem Grabbeltisch liegen und das war es dann. Keine Verfilmung, keine Taschenbuchausgabe, nichts. Dafür ist der Autor, wie er auf der Lesung berichtete, drei, vier Jahre lang jeden Morgen um fünf Uhr aufgestanden, um vor der Arbeit noch ein paar Stunden an seinem Roman zu schreiben. Brell ist eigentlich IT-Manager in einem Berliner Unternehmen und nicht auf den literarischen Erfolg angewiesen. Aber eine zweite Auflage wäre gut gewesen. Verdient hätte es das Buch allemal.

Ich persönlich liebe ja Berlin-Romane, ganz besonders wenn sie an Orten spielen, die ich gut kenne. Kress ist Student der Literaturwissenschaft an der FU Berlin, steigt in Dahlem Dorf aus der U-Bahn, besucht in der sogenannten Rostlaube seine Hauptseminare und sitzt anschließend in der Silberlauben-Mensa beim Mittagessen. Genau wie ich vor mehr als zwanzig Jahren. Es macht Spaß und ich genieße es sehr, in Gedanken einfach mal wieder Uniluft zu schnuppern. Das allein reicht mir schon, um diese Lektüre zu genießen.

Aber dieser Roman bietet noch mehr. Mit Kress ist dem Autor eine Figur fasst schon Dostojewski’schen Zuschnitts gelungen. Wir alle kennen solche Typen wie Kress. Das waren die, die bei der Wahl von Mannschaften im Sportunterricht immer bis zuletzt übrig geblieben sind, von denen man morgens im Bus die Mathehausaufgaben abgeschrieben und nachmittags eine Krampe an den Kopf geschossen hat. So Außenseitertypen wie der junge Bill Gates, die entweder mal ganz groß rauskommen oder mit vierzig noch bei Mutti am Küchentisch sitzen. Kress‘ Mutter und Vater sind gestorben, sonst säße er wohl immer noch daheim am Küchentisch. Stattdessen lebt er in Berlin in einer ungemütlichen Studentenbude und unterhält sich mit den Tauben auf dem Küchensims.

Als eines Tages eine hübsche, talentierte Studentin verspätet ins Kleist-Seminar kommt und sich neben ihn setzt, gerät das gleichförmig, unspektakuläre Kresssche Leben nach und nach aus den Fugen. Der Romanheld entpuppt sich als das, was viele dieser Eigenbrötler in Wirklichkeit sind. Sozial völlig inkompetent und gestört, labil, manisch und im Endeffekt sogar gefährlich. Und so wird aus der zunächst sehr launigen Charakterstudie ein am Ende sehr bedrückendes Psychogramm, das mich nachdenklich und traurig zurücklässt. Ich denke an zwei, drei Typen aus meiner Klasse, die genau so waren. Was ist aus denen wohl geworden? Haben sie Glück gehabt wie Bill Gates oder sitzen sie jetzt auch irgendwo einsam rum, sprechen mit Tauben und kriegen im Bus von Jugendlichen Krampen an den Kopf geschossen?

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Titelfoto: Gabriele Luger

Verlag: Ullstein
336 Seiten, 20.00 €

 

 

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