Bodo Kirchhoff – Widerfahrnis

 

Bodo Kirchhoff – Widerfahrnis. 

Zunächst einmal sei hier betont: Ich bin der ultimative Bodo Kirchhoff-Fan. Das bedeutet,  wenn ich im Folgenden an seinem neuen Buch Widerfahrnis – das übrigens auf der Longlist des Deutschen Buchpreises steht – wenn ich also daran etwas kritisieren werde, was ich in der Tat zu tun gedenke, dann heißt das nicht, dass ich den Autor an sich und sein aktuelles Werk ablehne – ganz und gar nicht, nichts liegt mir ferner, im Gegenteil, ich bewundere ihn – es geht mir immer nur um Details, Kleinigkeiten, die vielleicht nur mir aufgefallen sind, die möglicherweise auch gar keinen stören – nur mich, seinen vielleicht größten Fan, der als solcher natürlich eine viel höhere Erwartungshaltung hat und einen Text von Bodo Kirchhoff ganz anders rezipiert, als ein ihm neutral gegenüberstehender Leser. Daher sei es mir gestattet zu sagen, dass mir in seinem jüngsten Werk die Sätze einfach zu lang sind.

Nicht dass er jemals kurze Sätze schreiben würde, nein der typische Kirchhoff-Stil verlangt nach langen, kunstvoll konstruierten und verschachtelten Sätzen. Aber diesmal hat er es für meinen Geschmack etwas übertrieben. Regelrechte Satzungetüme hat er da aufgebaut, die sich über halbe, fast schon ganze Seiten ziehen und nur mittels einer ganzen Batterie an Kommata, Gedankenstrichen, Doppelpunkten und hier und da sogar einem Semikolon mühevoll strukturiert und in Schach gehalten werden. Das, und so viel Kritik muss erlaubt sein, ist mir persönlich ein wenig zu viel des Guten. Mir fällt da der Vergleich zu der Schraube ein, die noch fester als fest zugedreht, plötzlich wieder locker wird.

Andere scheinen sich nicht daran zu stören, ganz im Gegenteil. So wird auf dem Backcover von Widerfahrnis aus der FAZ zitiert: “ Bodo Kirchhoff ist auf der Höhe seiner Kunst angekommen, ein souveräner Meister in der Beherrschung seiner Mittel. Virtuos!“ Ja, mag sein, aber Kunst läuft schnell Gefahr, wenn sie zu perfekt und geschliffen wirkt, als langweilig empfunden zu werden, oder aber anstrengend, zu gewollt, irgendwie uncool und sogar – Achtung Dolchstoß – als altmodisch.

Nun ist es raus. Ja – altmodisch, so kommt es mir vor, beinahe hätte ich sogar Altherrenprosa gesagt. Es tut mir leid, aber es ist so einiges irgendwie aus der Zeit gefallen in und an diesem Buch. Nicht nur die verklausulierte und manchmal etwas gestelzt wirkende Sprache; altmodisch ist auch der Begriff „Novelle“ und der Titel „Widerfahrnis“. Ich meine, wer außer vielleicht Martin Walser kennt und gebraucht noch dieses Wort, und wer bitteschön geht in den Buchladen und fragt nach einer schönen Novelle statt nach einem spannenden Roman? Altmodisch sind auch die Protagonisten, wie der ehemalige Verleger Reither, der seinen kleinen Indie-Verlag mit angeschlossener Buchhandlung verkauft hat, als er festgestellt hat, dass es mehr Menschen gibt, die schreiben, als Menschen, die lesen (meine Rede!). Wozu dann noch weiter Bücher verlegen – für wen? Auch wenn das keiner gerne hört – am wenigsten ich – Bücher sind leider auch altmodisch. Genauso wie Hüte. Die zweite Hauptfigur dieser „Novelle“, Leonie Palm, hatte einen Hutladen, der natürlich irgendwann Pleite gegangen ist, weil keiner mehr außer zu Karneval Hüte trägt.

Reither und Leonie Palm kommen sich näher, beginnen eine zarte Liebelei, die erst nach Tagen, achthundert Kilometern Autofahrt, mehren Flaschen Rotwein und zehn Schachteln Zigaretten im Bett landet. Es ist beinahe rührend zu sehen, wie die beiden erfahrenen Herrschaften wie zwei Teenager umeinander herum scharwenzeln, hier mal Händchen halten, da mal einen Nacken kraulen, aber nie zur Sache kommen, die magische Grenze nie überschreiten. Auch das, so meine Einschätzung, geht heutzutage irgendwie flotter.

Es hat etwas gedauert, bis ich darauf gekommen bin, dass das ganze Altmodische, das „Aus-der-Zeit-gefallen-sein“ zum Programm dieses literarischen Roadmovies gehört. Es ist sozusagen das Thema, darum geht es in „Widerfahrnis“. Deswegen wird geraucht, als wenn Zigaretten immer noch vier D-Mark kosten würden, deswegen trägt der Verleger seine alte Lederjacke aus den Achtzigern und hört die Hutmacherin in ihrem alten 3er-Cabrio Musikkassetten von Paul Anka. Das sind alles Allegorien oder meinetwegen Metaphern, jedenfalls Zeichen, die nicht zufällig in die Geschichte eingebaut wurden.

Reither und Palm fahren von Bayern nach Sizilien, von Nord- nach Südeuropa. Im Auto ist zusammen mit beiden die alte Zeit gefangen – Bücher, Hüte, Zigaretten und Paul Anka. Draußen ist die neue Zeit, Flüchtlinge, die in die entgegensetzte Richtung streben, von Süd- nach Nordeuropa. Reither und Palm sehen sie auf Bahnhöfen und hier und da an diversen Stellen. Sie stehen für Veränderung, für eine neue Zeit, in der mehr Bücher geschrieben und weniger gelesen werden, in der keine Hüte getragen werden und auch keiner mehr im Auto ein Kassettenlaufwerk hat, um Paul Anka-Kassetten zu hören.

Als Mann, der auch nicht mehr blutjung ist, glaube ich zu verstehen, was Bodo Kirchhoff damit sagen will. Die Nachkriegs-Generation ist am Ende. All die alten Ideale, Rituale und Alltäglichkeiten haben ihre Bedeutung, ihren Sinn und Zweck verloren, wirken altmodisch und antiquiert. Genau wie eine übertrieben kunstfertige Sprache. Jetzt kommt etwas Neues auf uns zu, von Süden nach Norden, mit neuen Ansichten und Werten. Wir werden uns darauf einlassen müssen, uns wird nichts anderes übrig bleiben. Denn man kann die Zeit nicht zurückdrehen, sondern nur für ein paar Stunden mal anhalten und sich aus ihr fallen lassen, um Paul Anka zu hören, Bodo Kirchhoff zu lesen und einfach mal unbeschwert altmodisch zu sein.

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Foto: Gabriele Luger

Verlag: Frankfurter Verlagsanstalt
224 Seiten, 21,00 €

 

9 Kommentare

  1. Ich finde den Titel wunderbar! Und auch das Altmodische ist großartig, es ist für mich überhaupt kein Schimpfwort. Schade wäre, in der Tat, wenn solche „altmodischen“ Arten zu schreiben verschwinden würden. Aber zum Glück gibt es auch aktuelle Autoren, die solchen Schreibstil bewahren, wie z.B. Kaiser-Mühlecker, der ja sogar auch auf der Longlist steht …

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    1. Ich mag das ja prinzipiell auch und schwelge gerne in schöner Sprache. Aber in diesem Fall ist es mir ein Schlenker zu viel, zu gewollt virtuos. Lies es mal laut, dann merkt man es. Der Text läuft nicht rund.

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  2. Da hast du mal wieder zu einem Rundumschlag ausgeholt … zum Kirchhoff kann ich nichts sagen, aber dass Du uns den Begriff „Novelle“ ausreden willst. Natürlich gehe ich in den Buchladen und verlange regelmäßig Novellen 🙂
    Jetzt im Ernst: Novelle ist ein Gattungsbegriff, der in der Alltagspraxis von uns Lesern keine Rolle spielt. Aber dennoch sind solche Begrifflichkeiten nicht unnötig oder gar altmodisch, sie helfen manches mal auch dabei a) ein Werk einzuordnen und b) zu sehen, wie sehr sein Schöpfer nicht nur das Kreative, sondern auch das Handwerkliche beherrscht.
    Und stell dir die Käufer vor, die hinterher den Buchhändler verklagen, weil „der Roman“ so kurz ist. Da bist du mit Novelle (ohne Anführungszeichen) auf der sicheren Seite.
    Bodo werde ich trotzdem nicht lesen, fand schon Infanta ziemlich altherrenmodisch. (kleiner Fehdehandschuh).
    Liebe Grüße Birgit

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    1. Hallo Birgit,
      ich musste jetzt einen Tag darüber nachdenken, was von dem Kommentar jetzt ernst und was ironisch gemeint ist. Und ich weiß es ehrlich gesagt immer noch nicht. Bitte verwende doch etwas eindeutigere Emojis.

      Bist Du wirklich der Meinung, dass es noch des Gattungsbegriffes „Novelle“ bedarf? Und die in diesem Zusammenhang vorgenommene Unterscheidung zwischen der Beherrschung des Kreativen und des Handwerklichen verstehe ich auch nicht.

      Ich stehe also ein wenig auf dem Schlauch und reiche daher den Fehdehandschuh erstmal wieder mit Dank zurück.

      LG Tobias

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      1. Lieber Tobias, tut mir leid, wenn ich nicht eindeutig war und du einen ganzen Tag denken musstest (letzter Halbsatz Ironie). Also, ich wollte nicht zu streng wirken (der Fehdehandschuh ist nicht ernstgemeint), aber ich meine, dass manche Gattungsbegriffe schon noch Sinn machen, wenn auch nicht im Alltagsgebrauch. Natürlich gehe ich nicht in eine Buchhandlung und verlange nach einer Novelle. Aber ich hab mich mit dem Novellen-Begriff beschäftigt, als ich das vielfach gepriesene Buch von Jonas Lüscher las, das als Novelle angepriesen wurde: https://saetzeundschaetze.com/2016/01/11/jonas-luscher-barbarischer-fruehling/. Ganz kurz: Es bezeichnet eine längere Erzählung, die eine ungeheuerliche Neuigkeit/ein ungeheuerliches Ereignis schildert mit Spannungsbogen und einer Auflösung am Schluß, Leitmotiv, Dingsymbol etc. beinhaltet. Ich fand es als Leserin einfach dann interessant zu sehen, wie Lüscher, obwohl ich das Buch nicht so sehr mochte, doch diese Novellentheorie sehr gut durchgezogen hat. Und das meine ich mit dem unverständlichen Satz Handwerk/Kreatives. Vielleicht kann ich es an der Bildenden Kunst noch deutlicher machen – man steht manchmal vor modernen Werken und rümpft die Nase – was soll dass, eine blaue Fläche mit schwarzem Klecks. Wenn ich dann sehe, dass der /die Malerin auch ganz klassische gegenständliche Malerei gelernt hat und beherrscht (Handwerk) und dann vielleicht immer mehr ins Abstraktere sich entwickelt, finde ich das schon faszinierend. Ich denke, auch in der Literatur kann es eine gute Übung für Schrifsteller sein, verschiedene Gattungsformen „zu üben“ – also, auch wenn ich mich hier vielleicht in die Nesseln setze: Aber so Bewusstseinsstromsfließende Texte glaube ich, könnte fast jeder erstmal recht kunstlos hinhauen, aber setz dich mal hin und versuch eine Novelle mit all dem, was die Gattung so in sich birgt, zu schreiben – das meine ich mit handwerklicher Übung, die dann durch das Talent verfeinert, erhöht, ergänzt wird. LG Birgit

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  3. Buchrevier, Deine Deutung der Absichten Kirchhoffs ist freundlich, was ein Kirchhoff-Fan wie ich nachvollziehen kann. Aber dass in dem Jubelchor der Kritiker niemandem auffällt, was für ein Unterschied zwischen dieser resigniert wirkenden Pflichtübung mit zeitgeistigem Touch und den beiden vorangegangenen Romanen besteht, muss einen schon wundern. Und nicht die langen Sätze stören mich, ich habe sie in „Die Liebe in groben Zügen“ atemlos verschlungen, sondern die kurzen, überflüssigen Trivialitäten. Ohne das anbieten, anzünden und ausdrücken von Zigaretten wäre der „Roman“ nur eine echte Novelle geworden.

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  4. Was Bodo Kirchhoff in „Widerfahrnis“ passieren lässt – das hat auf der privat/persönlichen Ebene doch Max Frisch in „Homo Faber“ und besonders in „Der Mensch erscheint im Holozän“ viel nüchterner und virtuoser dargestellt ! Der Protagonist Reither hat, genau wie Walther Faber in „Homo Faber“, einmal kein Kind mit einer schwangeren Freundin haben wollen, was in beiden Büchern fatale Konsequenzen mit sich führt . . und die totale Einsamkeit des Alters wird bei Frisch in „Der Mensch erscheint . . “ nicht durch eine eher unglaubwürdige Liebesgeschichte annuliert.

    Und das Kirchhoff dann mit allem, was er an Political Correctness zu bieten hat, es nicht lassen kann, nicht nur eine sondern sogar zwei Flüchtlings- Geschichten in seine Liebesgescichte integrieren zu wollen . . . das ist und bleibt für mich einfach des Guten zu viel.

    Als Däne muss ich gestehen: ich hätte NIE in meinem Leben geglaubt, eine so epigonale und ab und zu sogar kitschige Novelle könnte den deutschen Buchpreis gewinnen . . . . .

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