Martin Becker – Marschmusik 

 

Als ich mit Buchrevier anfing, wollte ich mich eigentlich auf Literatur aus dem Ruhrgebiet fokussieren — daher auch der Zusatz ‚Revier‘. Aber schnell musste ich feststellen, dass da nicht viel ist, worüber sich zu schreiben lohnt. Genau genommen so gut wie gar nichts. Das wäre ein ziemlich langweiliger Blog geworden. Einige Autoren sind im Ruhrpott geboren, wie zum Beispiel Ralf Rothmann, aber geblieben ist eigentlich nur Frank Goosen, der mittlerweile einzig bekannte, wenngleich nicht unbedingt literarische Ruhrgebietsautor. Das ist schon ein ziemliches Armutszeugnis für diese eigentlich ziemlich kreative Metropolenregion, wo ich mein berufliches Zuhause habe.

Aber zunächst mal Martin Becker. Wie viele Menschen in Deutschland heißen eigentlich so? Auf dem Cover seines aktuellen Romans Marschmusik prangt das inoffizielle Logo des Ruhrgebiets, der Förderturm der Zeche Zollverein. Ein klareres Bekenntnis zum Pott kann man nicht abgeben, zugleich aber auch kein einfallsloseres. Aber sei’s drum, ich hab’s gesehen, und mein Interesse war da. Und so wird es wahrscheinlich vielen gehen. Eine Posaune, die andere denkbare Cover-Illustration für einen Roman namens Marschmusik, hätte sicherlich nicht so viel Interesse erzeugt.
Auch der Autor Martin Becker ist weder im Ruhrgebiet geboren, noch lebt er jetzt da. Aber seine Wurzeln liegen im Pott. Sowohl Großvater und Vater waren Bergleute in Bochum, und in Marschmusik geht er diesem Leben auf den Grund. Einem typischen Malocher-Leben, einer Männerwelt unter Tage, mit Begriffen wie Arschleder, Flöz und Kaue. Wörtern, die heute kaum noch jemand kennt und die demnächst aussterben werden. Mit dem typischen Feierabendbier von der Trinkhalle und der ewigen Kippe im Mundwinkel.
Martin Beckers autobiografischer Ich-Erzähler erinnert sich, er recherchiert, will mehr über sich und seine Herkunft erfahren. Er trifft sich mit dem alten Sauhund Hartmann, einem Freund seines verstorbenen Vaters, fährt als Besucher für einen Tag in einen der letzten aktiven Schächte ein und geht durch die Zimmer des kleinen, von zigtausend Zigaretten eingequalmten Reihenmittelhauses der Eltern. Die Mutter lebt noch, immer auch noch in dem alten Haus, ist nach schwerer Krankheit zwar nur noch ein Schatten ihrer selbst, aber sie freut sich, ihn zu sehen. Er dagegen zählt die Stunden, bis er wieder in sein eigenes Leben entschwinden kann, das so gänzlich anders ist, als das seiner Eltern. Aber warum ist das so, warum ist er so anders? Wie hat er es geschafft, aus den einfachen Arbeiterklasse-Verhältnissen auszubrechen und was hat er davon mitgenommen? Und ist das Leben, das er lebt, tatsächlich besser und glücklicher als das, was sein Großvater und Vater führten? Oder einfach nur anders, weniger hart, gesünder, komplizierter und wahrscheinlich auch länger. Fragen, die sich jeder irgendwann einmal stellt. Wo komme ich her, was hat mich geprägt und welche Päckchen schleppe ich deswegen durchs Leben?
So etwas ist natürlich überhaupt nicht unique, hat man schon tausendfach gelesen, das ist sozusagen der klassische Einstieg in das literarische Schreiben. Den Unterschied macht allerdings das Wie. Setting, Aufbau, Figuren, Sprache und Stimmung. Und hier hat mich Martin Becker richtig beeindruckt.
Ich habe in diesem Jahr überhaupt noch nicht über den Deutschen Buchpreis nachgedacht. Einfach, weil mir bisher kein Buch untergekommen ist, das dafür infrage kommt. Marschmusik dagegen ist in meinen Augen ein glasklarer Longlist-Kandidat. Becker hat seinen ganz eigenen literarischen Stil, auf den man sich erstmal einlassen muss. Wiederholungen, Zwei-Wortsätze, ein sprachliches Stakkato mit viel Rhythmus und Drive. Aber wenn man sich da erstmal eingefuchst hat, macht das Lesen richtig Spaß. Ich hab mir manche Passagen laut vorgelesen, um den Sound dieses Romans besser aufzunehmen.
Das mit den Wiederholungen ist etwas verwirrend. Manchmal sind es nur einzelne Sätze, die immer wieder auftauchen, die eine bestimmte Szene noch einmal aus anderer Sicht beleuchten und so das Bild verfeinern. Manchmal sind es aber auch ganze Textpassagen, die wiederholt werden, bei denen man plötzlich stockt und sich denkt: Moment mal, das habe ich doch gerade schon mal gelesen. Da das Lektorat an manchen Stellen ein wenig schlampig ist, hier und da schon mal ein Wort fehlt, gerät man ins Zweifeln, ob das jetzt gewollt ist oder einfach nur übersehen wurde. Das trübt ein wenig das Lesevergnügen, macht den Roman an sich aber nicht weniger lesenswert. Marschmusik hat mich stark beeindruckt. Setting authentisch, Figuren liebevoll gezeichnet, Sprache beeindruckend, langer Nachhall garantiert.
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Foto: Gabriele Luger

Verlag: Luchterhand

288 SEITEN, 18,00 €

 

2 Kommentare

  1. Schöner Zufall: habe gerade eben die wundervolle Verfilmung von Ralf Rothmanns Roman „Junges Licht“ gesehen. Ruhrpott, Kohle, Bochum, … all die von dir beschriebenen Bilder sind noch in meinem Kopf, dieser berühmte Förderturm inclusive. Deine Rezension macht mich jetzt sehr neugierig auf das Buch von Martin Becker!
    Schöne Grüße, Jacqueline

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    1. Ach wie schön, ‚Junges Licht‘ wurde verfilmt? Muss ich mir anschauen. Aber das Ruhrgebiet kann man auch live anschauen. Komm doch mal vorbei, ich mache gerne für Dich den Reiseführer. LG Tobias

      Gefällt 1 Person

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