Sasha Marianna Salzmann – Ausser sich

Jeder kennt das: man liest ein Buch, das einem eigentlich ganz gut gefällt. Es ist sprachlich herausragend, hat einen guten Sound, und es könnte eine schöne Lesestimmung entstehen, wenn da nur dieses eine Wort nicht wäre: eigentlich. Denn uneigentlich kommt man damit nicht weiter. Ein paar Seiten jeden Abend, viel mehr ist nicht drin. Die Geschichte entwickelt keinen Sog, man kommt auch nach zweihundert Seiten nicht richtig rein und steigt daher irgendwann enttäuscht aus.

So ist es mir mit dem von der Literaturkritik hochgelobten Romandebüt der Theater-Dramaturgin Sasha Marianna Salzmann gegangen. Zwei Wochen lang habe ich es immer wieder in die Hand genommen, wollte es unbedingt schaffen, doch es gelang mir nicht. Ich dachte zunächst, es läge an mir und suchte nach Entschuldigungen: habe wohl gerade zu viel um die Ohren, keinen Kopf für so verworrene Geschichten, aber morgen dann, ganz bestimmt, wäre ja auch schade drum.

Und irgendwann erstarrte der allabendliche Impuls, nach dem Buch zu greifen, schon in der Bewegung. Stattdessen griff ich zum Handy, zur Zeitung, sogar zur Fernseh-Fernbedienung und schließlich dann auch zu anderen Büchern, die ich ohne Probleme in einem Rutsch durchlas. Und das war dann der Todesstoß für dieses Werk. Als ich es pro forma nach ein paar Wochen Pause noch einmal in die Hand nahm, konnte ich mich erst recht nicht mehr in die verworrenen Zeit- und Handlungsstränge, Personen und Settings hineinfinden.

Wenn dieser Roman sprachlich nicht so überragend wäre, hätte ich überhaupt kein Problem damit, ihn mittendrin einfach abzubrechen, einen Verriss zu schreiben und das Ding so schnell wie möglich zu vergessen. Aber die Autorin hat großes Talent, ist eine echte Virtuosin und konstruiert tolle, klangvolle Sätze. Melodisch und rhythmisch fein austariert, mal lang, mal weniger lang, mal bildhaft und poetisch und dann wieder nüchtern und faktisch – perfekte Vorlesesätze. Aber Sprache ist halt nicht alles. Die Geschichte, das Setting, die Protagonisten, die Handlungsstränge, der rote Faden – das alles ist mindestens ebenso wichtig und sollte sich im Idealfall zu einem stimmigen Gesamtbild zusammenfügen. Und das tut es hier leider nicht.

Dabei ist die Geschichte nicht allzu kompliziert. Es geht um Alissa, die auf der Suche nach ihrem verschollenen Zwillingsbruder Anton ist. Die Suche führt sie nach Istanbul, mitten in die Wirren der Aufstände am Taksim-Platz. Es gibt immer wieder Zeitsprünge, und wir erfahren wie die Eltern und Großeltern als Juden in der Sowjetunion gelebt haben, bis sie in den Neunziger Jahren nach Deutschland emigrieren durften. Anton verschwindet irgendwann spurlos, nach Jahren erreicht die Familie eine Postkarte von ihm aus Istanbul, und Alissa macht sich auf die Suche.

Das Themenspektum ist riesig: Politik, Religion, Familie, Emigration und Immigration. Das alles hätte vollkommen ausgereicht, um einen großen Gegenwartsroman zu schreiben. Doch nicht für die begabte Jungautorin Salzmann. Aus Alissa wurde Ali und aus dem ohnehin schon thematisch überfrachteten Roman-Gemengelage ein queeres Vewirrstück. Das war der Punkt, an dem ich dann ausgestiegen bin. Nicht weil ich mit der Transgender-Thematik nichts anfangen kann, sondern weil sich die Autorin einfach mit den Themen übernommen hat. Eine russisch-deutsche, gleichgeschlechtlich liebende, transgender Protagonistin jüdischen Glaubens mitten im muslimischen Istanbul während der aktuellen politischen Unruhen – das ist einfach übertrieben konstruiert und nicht mehr glaubwürdig. Da rolle ich mit den Augen und bin raus.

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Foto: Gabriele Luger

Verlag: Suhrkamp
366 Seiten, 22,00

 

Der Buchtrailer:

Bildschirmfoto 2017-10-08 um 19.05.46

4 Kommentare

  1. Ich fand diese dichte Geschichte sehr, sehr gut, auch spannend. Ich habe den Roman in einem Rutsch gelesen. Einige der Themen werden ja durch die Biografie der Autorin belegt, warum sollte es dann zu viel sein, wenn das Leben selbst voller verschiedener, auch gegensätzlicher Geschichten und Themen ist? Viele Grüße

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  2. Mir hat sich, wie schon geschrieben die Außergewöhnlichkeit und auch die Tatsache, daß so viele von dem Buch so begeistert sind, nicht ganz erschloßen.
    Zum Lesen habe ich ein nicht sehr lang gebraucht, denke aber, daß es neben der schönen Sprache nicht so ungewöhnlich ist, die Genderproblematik ist jetzt sehr modern und die jüdische Familiengeschichte habe ich schon in vielen Variationen gelesen. https://literaturgefluester.wordpress.com/2017/09/21/ausser-sich/
    Ich wünsche mir, das habe ich vielleicht auch schon gschrieben für den deutschen Buchpreis Marion Poschmann https://literaturgefluester.wordpress.com/2017/09/30/die-kieferninseln/ und für den österreichischen Robert Menasse https://literaturgefluester.wordpress.com/2017/10/01/die-hauptstadt/, aber vielleicht sehe ich das, wenn ich Doron Rabinovici gelesen habe, anders, liebe Grüße aus Wien

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  3. Hallo Tobias,

    verlinkt habe ich dich ja schon und nun ein kurzer Kommentar
    Wie ich sehe, gehen wir fast einheitlich im die Kritik zu diesem Buch. Gerade diese Sprache hat es mir schwer gemacht, dass Buch abzubrechen, aber dieses nicht hinein finden in die Geschichte war ein steiniger Weg. Habe es zwar ausgelesen, aber vieles ist schon wieder dem Vergessen anheim gefallen. Einzig die Szenen zu Zeiten des Zweiten Weltkriegs und der Besuch der Familie in der alten Heimat bleiben mir in Erinnerung.

    Gruß
    Marc

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