Was hätte ich wohl getan? Wie hätte ich mich verhalten? Das denke ich jedes Mal, wenn ich ein Buch lese oder höre, dessen Geschichte im Krieg spielt. Dabei ist es egal, ob Erster oder Zweiter Weltkrieg, Vietnam oder Jugoslawien – Elend ist Elend, Brutalität, Verzweiflung und Tod sind immer gleich fürchterlich. Krieg ist nunmal Krieg, und ich bin so unendlich froh, dass ich das noch nie am eigenen Leib erleben musste. Und doch habe ich eine leise Ahnung davon, kann mir vorstellen wie es sich anfühlt, wie es schmerzt, wie es ist, wenn das eigene Leben am seidenen Faden hängt.
Lass es hundert oder zweihundert Kriegsromane sein, die ich bereits gelesen habe, dazu kommen bestimmt noch einmal genau so viele Filme – ich suche nicht danach, es geilt mich nicht auf, ich gehe dem Thema aber auch nicht aus dem Weg. Im Krieg passiert das Schlimmste, was Menschen anderen Menschen antun können. Und deswegen ist es gut, dass es zu dem Thema immer wieder neue Romane gibt, die uns den Spiegel vorhalten und uns zwingen, darüber nachzudenken, wie man sich wohl selber verhalten hätte, damals im Krieg.
Arno Geigers neuer Roman „Unter der Drachenwand“ bietet genügend Stoff zum Nachdenken. In Tagebucheinträgen und Briefen schildert er wunderbar dicht und bedrückend atmosphärisch vier Kriegsschicksale, wie sie der zweite Weltkrieg unzählig ins Gedächtnis und die Herzen unserer Eltern, Groß- und Urgroßeltern gebrannt hat. Und obwohl man das alles irgendwo schon mal gelesen und gehört hat, ist nichts redundant, keine einzige dieser Geschichten wie die andere und jede für sich erzählenswert.
Im Mittelpunkt steht der österreichische Stabsgefreite Veit Kolbe, der 1944 verletzt vom Russland-Feldzug in sein Wiener Elternhaus zurückkehrt. Fünf Jahre hat er an der Ostfront alles mitgemacht und ist nicht nur physisch, sondern auch psychisch schwer verletzt. Weil er das linientreue Geschwafel der Eltern nicht länger ertragen kann, flüchtet er in das vom Krieg noch weitgehend verschonte Salzburger Land. Am Mondsee unter der Drachenwand, wo sein Onkel als Dorfpolizist tätig ist, bezieht Veit auf einem landwirtschaftlichen Hof Quartier.
Doch auch wenn die Geschwader der Alliierten über Mondsee nur hinwegfliegen und ihre Bomben erst ein paar Kilometer weiter in den Metropolen des Reichs abwerfen – der Krieg ist in dem kleinen Bergdorf trotzdem allgegenwärtig. Da ist diese landschaftliche Idylle, der See, die intakte Natur – alles könnte so schön sein, aber trotzdem ist alles schrecklich, denn es ist Krieg. Auch wenn keine Bomben fallen, keine Panzer durchs Dorf rollen und keine Schüsse fallen – der Krieg ist in den Köpfen, kommt übers Radio und Briefe ins Dorf.
Es kann uns Menschen noch so schlecht gehen, irgendwie schaffen wir es immer wieder, auch in düstersten Stunden Hoffnung zu schöpfen und uns zum Weitermachen zu motivieren. Menschen sterben wie die Fliegen, aber zur selben Zeit verlieben sich auch welche, zeugen Kinder und sorgen dafür, dass es irgendwie weitergeht. Das alles passiert auch im Jahre 1944 unter Arno Geigers Drachenwand. Dieser Roman ist so übervoll mit Menschlichem, dass man immer mal wieder Pause machen muss, um Atem zu holen, sich zu schütteln und sich darüber klar zu werden, dass das alles schon 74 Jahre her ist.
Fast ein ganzes Menschenleben ist mittlerweile vergangen. Seither ist ununterbrochen Frieden, zumindest hierzulande. Wenn heutzutage die Sirenen heulen, ist es lediglich Samstag Mittag. Keiner muss mehr in irgendwelche Keller flüchten. Wir haben aus der Vergangenheit gelernt; Krieg und Konzentrationslager werden uns nicht mehr passieren, so meine Überzeugung. Doch dann lese ich in der Westdeutschen Zeitung, dass hier in Krefeld ein Bundestagsabgeordneter dazu aufgerufen hat, Geschäfte von Türken zu boykottieren.
Und plötzlich liegen der Mondsee und die Drachenwand mitten im heimischen Krefeld. Noch ist alles friedlich, aber in der Ferne hört man schon die Flugzeuge.
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Foto: Gabriele Luger
Verlag: HörbuchHamburg
Gesprochen von: Torben Kessler, Michael Quast, Cornelia Niemann und Torsten Flassig
14 h 22 Minuten, 14,99 €
Erhältlich bei: audible.de (Hörpobe)
Verlag Printausgabe: Hanser
480 Seiten, 26,00 €
Ich habe erst gut 3 Stunden des Hörbuches gehört, aber es ist vollkommen fesselnd geschrieben. Authentisch, lebensnah, ohne Übertreibung und Effekthascherei beschreibt es die Kriegswelt, wie sie war, mit viel Raum für das Zwischenmenschliche und Persönliche.
Dazu kommt der ausgefeilte Stil, wie man ihn von Arno Geiger kennt.
Bisher kann ich mich deiner Empfehlung völlig anschließen.
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Ja, so empfinde ich das auch. Den Roman zeichnet aus, dass er weniger Erzählung, dafür mehr Zeitzeugenbericht ist. Das macht die vielen kleinen Geschichten so authentisch und bewegend.
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Wir sehen den Frieden in unserem Land als selbstverständlich an, dabei ist es ein großes Glück, für das wir unendlich dankbar sein sollten, sieht man auf die zahlreichen Kriege und Auseinandersetzungen auf der Erde. Und wir Jüngeren können nicht nachfühlen, wie es ist, im Krieg zu leben. „Nur“ Bücher und Filme können uns in etwa davon erzählen, auch später, wenn die Zeitzeugen nicht mehr unter uns sind, deshalb sind solche Werke auch so kostbar. Vielen Dank für Deine wundervolle Besprechung. Viele Grüße
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