Titel und Klappentext lassen vermuten, dass es sich hier augenscheinlich um ein Männerbuch handelt. Es ist daher nicht weiter verwunderlich, dass ich als „last man reading“ dieses Werk zur Beurteilung zugeschickt bekommen habe. Und ich muss zugeben, dass das keine schlechte Idee vom Verlag war, denn es hat mir auf Anhieb gefallen, was ich da in den Händen hielt. Geschmackvolle Aufmachung, ein Autor, der auf dem Foto im Klapper aussieht wie mein Bloggerfreund Tilman Winterling und ein Zitat auf dem Buchrücken, das mich genau da abholt, wo ich mich als Mensch und Mann gerade befinde.
„Ich bin nicht mehr jung, hatte er gedacht, mit den Händen im Schoß im Hotel sitzend, den Fußboden anstarrend. Wann ist das passiert?“
Wenn ich dieses Buch im Handel erblickt hätte, ich hätte es garantiert gekauft und zwar ausschließlich wegen dieses einen Zitats auf der Rückseite. Auch wenn ich schon länger über die Midlife-Crisis hinweg bin, das Älterwerden an sich und seine vielen Begleiterscheinungen beschäftigen mich nach wie vor – nicht unbedingt täglich, aber oft. Eigentlich fühle ich mich schon seit ich denken kann, zu alt für irgendetwas. Zu alt, um noch ein Musikinstrument oder eine Sprache zu erlernen, zu alt für ein Auslandsstudium, zu alt für die Techno-Party, zu alt für den Job beim Startup-Unternehmen, zu alt, um mich noch jung zu fühlen.
Aber zurück zum Buch. David Szalay ist ein mir bis dato völlig unbekannter Autor mit kanadisch/ungarischen Wurzeln, der bereits drei Bücher veröffentlicht hat. Das erste, was mir an seinem jüngsten Roman auffiel, war die Tatsache, dass es überhaupt kein Roman ist. Auch wenn der Verlag sich mit zwei einleitenden Texten (einer Rezension und einem Interview mit dem Autor) größte Mühe gibt, das Etikett ‚Roman‘ zu rechtfertigen, sind und bleiben es neun eigenständige und in sich geschlossene Erzählungen. Nichts knüpft inhaltlich an die vorherige Geschichte an, die Handlungsstränge überschneiden sich nicht und fließen am Ende auch nicht zusammen. Und doch funktioniert diese Konstruktion. Man liest und empfindet es zusammenhängend, beinahe so – ich kann es nicht anders beschreiben – wie bei einem richtigen Roman.
Also lassen wir die Bezeichnung Roman mal so stehen. Es sind neun Geschichten in neun Kapiteln; sie spielen jeweils in einem anderen Monat (beginnend mit April), in einem anderen europäischen Land und haben einen Protagonisten, der jeweils zehn bis fünfzehn Jahre älter ist, als der im vorherigen Kapitel. Wir bewegen uns beim Lesen also durch die Monate eines Jahres, die Länder Europas und verschiedene Lebensabschnitte. Die Helden jeder Geschichte, jeden Kapitels sind Männer im Alter von 17 bis 73, alle in einer mehr oder weniger prekären Lebenssituation. Es sind keine dramatischen Begebenheiten, die da erzählt werden. Ganz im Gegenteil, es sind Alltagserlebnisse, die aber für das Denken und Empfinden in einem bestimmten Lebensabschnitt kennzeichnend sind.
Ich war nie mit einem Interrail-Ticket unterwegs, nie alleine im Billig-Urlaub auf Zypern und doch kommen mir Stimmung und Atmosphäre der ersten beiden Geschichten merkwürdig vertraut vor. Und auch bei den übrigen sieben Kapiteln ist es nicht anders. Als wenn man eine Reise durchs eigene Leben unternimmt. Es hat etwas Tröstliches zu sehen, dass wir Menschen noch so unterschiedlich sein können, uns aber im Laufe eines Lebens immer die gleichen Themen beschäftigen. Am Anfang die Frage, wer ich bin und wer ich sein will. Dann die ersten Niederlagen und Dinge, die einem einfach so passieren, inklusive Verletzungen, die man anderen zuführt. Mittendrin die Hochphase, man ist im Spiel, entweder Sieger oder Loser, manchmal auch beides. Und zum Ende rinnt einem alles, was man aufgebaut und geschaffen hat durch die Finger, zuletzt das eigene Leben.
Das ist genau das, was ein Mensch ist. Nicht mehr und nicht weniger. Die siebzig oder achtzig Jahre, die man Leben nennt. Ein Wimpernschlag im Weltenlauf. Ob Mann oder Frau – egal. Was spielt das für eine Rolle? Im englischen Original heißt der Titel, „All That Man Is“ – „Man“ im Sinne von Mankind – Menschheit. Im Interview sagt Szalay, dass ihm das Doppeldeutige in der deutschen Übersetzung gefällt. Mir gefällt das auch. Denn schließlich liegt genau darin die Antwort auf die Frage, was ein Mann ist.
Ein Mensch.
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Foto: Gabriele Luger
Verlag: Hanser
511 Seiten, 24,00 €
Aus dem Englischen übersetzt von Henning Ahrens.
Ich wäre dafür alle Frau- und Mannunterscheidungen in der Literatur endlich sein zu lassen. Ich weiß, ein Wunschtraum. Ich mache sie täglich selbst, diese Unterscheidungen. Dabei möchte ich nur als Mensch beurteilt werden und nicht als Frau. Danke für die Rezension. Ein Buch bestimmt wie gemacht für mich.
Gruß Erik*a
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