Corinna T. Sievers – Vor der Flut

Oha! Dachte ich nur, als ich mitbekam, worum es in diesem Roman ging. Was soll man von einer Geschichte erwarten, bei der eine alternde, nymphomane Zahnärztin die Hauptrolle spielt? Zum Thema Nymphomanie fallen mir auf Anhieb eine  Handvoll schlechter Witze ein, aber kein einziges gutes Buch. Was nicht heißt, dass darüber nichts geschrieben wurde – ganz im Gegenteil. Es gibt wahrscheinlich unzählige schmierige Horny-Romance-Heftchen oder etwas anspruchsvoller: Softporno-Belletristik à la Fifty Shades of Grey – nur eben nichts Gutes. Bis jetzt, bis „Vor der Flut“ von Corinna T. Sievers.

Ich finde es gleich in mehrfacher Hinsicht mutig, sich a) als Frau an ein solches Sujet zu wagen, sich dabei b) von all den billigen, Männer-Fantasien bedienenden Klischees abzugrenzen und c) dem Ganzen einen literarisch anspruchsvollen Rahmen zu geben, der d) als solches auch vom Kulturbetrieb erkannt und gewürdigt wird. Und wenn man mich fragt, ob das Corinna Sievers gelungen ist, dann kann ich nur sagen: ja!

Ich weiß nicht, wieviele Männer davon träumen, von ihrer Zahnärztin auf dem Behandlungsstuhl einen geblasen zu bekommen. Es sind bestimmt nicht wenige. Und von der äußerst geringen Wahrscheinlichkeit, dass einem normalen Mann so etwas irgendwann tatsächlich einmal passiert, lebt einen ganze Industrie. Und jetzt fragt man sich vielleicht, was unterscheidet so eine Szene, die in Corinna Sievers Roman tatsächlich so vorkommt, von einem herkömmlichen Porno?

Schwer zu sagen. Das zu lesen, hat mich jedenfalls nicht erregt, eher im Gegenteil. Obwohl ich nicht prüde bin, fand ich die Vorstellung eher erschreckend. Vielleicht auch, weil ich das Ganze beim Lesen aus der Perspektive der Frau imaginierte, einer Frau, deren zwanghafte Triebhaftigkeit ich bereits als krankhaft und zerstörerisch wahrgenommen habe. Vielleicht ist das der hauptsächliche Unterschied zwischen Sexszenen in der Literatur und im Porno, dass man nicht nur kopulierende Körper wahrnimmt, sondern komplexe Persönlichkeiten, deren Antrieb, Vorgeschichte und Seelenlage man kennt.

Und die Seelenlage von Judith, einer auf einer Nord- oder Ostseesinsel praktizierenden Zahnärztin, verheiratet mit einem Psychoanalytiker, der sich ihr seit mehr als zwanzig Jahren sexuell verweigert, ist komplex. Da ist zum einen ihre extreme Promiskuität, ein stummer Schrei nach Liebe, oder wie ihr Mann Hovard diagnostiziert, ein Verstärker, um sich selbst zu spüren. Da ist aber auch ihr vorgeschrittenes Alter – über 50 und damit nach Judiths Meinung nicht unbedingt das, was sich ein durchschnittlicher Mann als Bettgespielin wünscht. Hinzu kommt ihr kleiner, bzw. fast nicht vorhandener Busen, ihr leptosomer Körper und diverse weitere körperliche Unzulänglichen, die sich nunmal im Laufe der Jahre so einstellen. Aber Judith kennt die Männer und weiß, was sie zu tun hat, damit sie auf ihre Kosten kommt.

Ich muss sagen, mich hat die Lektüre abgestoßen und gleichzeitig fasziniert, was dazu geführt hat, dass ich das Buch kaum aus der Hand legen konnte. Nicht, weil ich gespannt auf die nächste Fickszene war, die übrigens alle von der Autorin sehr explizit, anschaulich und durchaus gekonnt geschildert werden, sondern weil man mit jeder Seite die Verzweiflung und Seelenpein der Protagonistin immer stärker spüren konnte. Ein Druck oder besser gesagt, eine Leere, die am Ende kein Schwanz mehr ausfüllen konnte. Ein Leben, das aus dem Ruder gerät, weil Sex keine Lösung ist und im Alter immer schwieriger wird.

Ein grandioses Buch, das sich sehr sensibel mit einem Thema beschäftigt, von dem wir Männer – auch wenn wir so tun als ob – nicht die leiseste Ahnung haben.

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Foto: Gabriele Luger

Verlag: Frankfurter Verlagsanstalt (FVA)
225 Seiten, 20,00 €

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