Vor einigen Wochen habe ich mich in Düsseldorf mit der Schriftstellerin Ulla Lenze zum Interview getroffen. Sie wurde 1973 am Niederrhein in Mönchengladbach geboren, hat in Köln Philosophie und Musik auf Lehramt studiert, aber nie als Lehrerin gearbeitet. Vier Romane hat Ulla Lenze bisher veröffentlicht. Der erste Roman „Schwester und Bruder“ erschien 2003 und wurde gleich mit mehreren Preisen ausgezeichnet, unter anderem mit dem Jürgen-Ponto-Preis für das Romandebüt des Jahres. Danach kam 2008 der Roman Archanu, im Jahr 2012 folgte „Der kleine Rest des Todes“ und im Februar 2015 erschien der aktuelle Roman „Die endlose Stadt“.
Buchrevier: Welches Buch ist Dein bisher erfolgreichstes? Welches ist dein persönlicher Liebling?
Ulla Lenze: Wenn man da jetzt ganz äußerlich herangehen würden, dann ist das der Debütroman. Er hat drei Literaturpreise erhalten. Wenn ich jetzt anders herangehe und schaue, welches Buch die interessantesten Kritiken bekommen hat, dann ist es „Der kleine Rest des Todes“. Dieses Buch hat sehr viele und gute Besprechungen bekommen. Und auch das neue Buch „Die endlose Stadt“ hat Kritiken bekommen, aus denen ich teilweise viel lerne. Die Frage nach dem liebsten Buch ist schwierig zu beantworten. Man hängt an jedem Buch auf seine Weise. Was man zuletzt geschrieben hat, ist aber meistens das, was einem am Nächsten steht.
Buchrevier: Du gibst ja momentan viele Interviews, denn „Die endlose Stadt“ ist ja noch ganz frisch auf dem Markt. Hast Du Killerfragen? Das heißt Fragen, die Dir zum Hals raushängen, die Du nicht mehr hören willst, hören kannst?
Ja, die gibt es. Ich muss aber sagen, dass es wichtig ist, trotzdem gute Antworten zu geben, auch auf Killerfragen. Und oft sind diese Fragen auch ganz unschuldig gestellt, mit dem Wunsch, mehr zu erfahren vom Autor. Und auch grad die typische Frage nach dem Autobiografischen, die kommt ja eigentlich immer und bei jedem Autor. Dahinter steckt so ein Verlangen nach Authentizität. Das heißt, man möchte sich in Sicherheit wiegen, will dass der Autor das alles auch wirklich kennt und erlebt hat und einem nichts vom Pferd erzählt.
Buchrevier: Ich versuche mal, eine Killerfrage zu stellen. Du hattest Stipendienaufenthalte in Istanbul und in Mumbai. Und just an diesen beiden Orten spielt die Handlung deines aktuellen Romans „Die endlose Stadt“. In diesem Zusammenhang fällt dann schon mal der Begriff ‚Stipendiatenprosa’. Ärgert dich das?
Wenn Du mir erklären kannst, was ‚Stipendiatenprosa’ ist?
Buchrevier: Ich dachte, Du kannst mir das erklären.
Nein, ich Rätsel ja schon ganz lange, was das sein soll. Dazu ist ja auch eine kleine Debatte entstanden, weil das eigentlich niemand weiß. Und das ist ein typisches Beispiel dafür, wie Kritiker einfach ein Wort nehmen und so tun, als würde es irgendetwas bedeuten. Aber es bedeutet rein gar nichts. Also der Hintergrund ist der, dass mal als Autor zu einem Aufenthaltsstipendium eingeladen wird und dort schreiben kann, was man will. Man hat keine Auflagen, man muss am Ende nicht irgendetwas abgeben. Natürlich freuen die sich, wenn man tatsächlich auch etwas schreibt. Also, man bekommt zwar den Aufenthalt bezahlt, aber man ist absolut frei. Insofern verstehe ich nicht, was Stipendiatenprosa bedeuten soll.
Buchrevier: Also ich verstehe darunter Folgendes: Man liest im Klappentext, dass Du Stipendien in Istanbul und in Mumbai hattest und stellt dann fest, dass die Handlung des Romans just dort spielt. Dann denkt man sich: wenn das nächste Stipendium vom Ruhrgebiet oder der Bodenseeregion kommt – spielt dann der nächste Roman auch dort?
Aber die Reihenfolge ist ja umgekehrt. Ich bewerbe mich ja auf einen Ort, der mich interessiert, das ist die Reihenfolge. Ich bewerbe mich, weil ich über Istanbul etwas machen will, für ein Istanbul-Stipendium und fahre dort hin.
Buchrevier: Ach, Du hast Dich darum offiziell beworben?
Ja, natürlich, und genauso war es auch mit Mumbai. Und dazu muss ich sagen: ich habe gerade mit Indien so eine lange Geschichte, die ist jetzt schon 27 Jahre alt. Ich würde auch nicht zwangsläufig über Orte schreiben, von denen ich keine Ahnung habe. Ich war zum Beispiel letztes Jahr in Venedig. Zwei Monate mit einem Aufenthaltsstipendium und werde mich hüten, über Venedig etwas zu schreiben, weil ich keine Ahnung von Venedig hab. Auch nach zwei Monaten nicht. Insofern verstehe ich diese Argumentation kein bisschen.
Buchrevier: Aber es geht ja im Grunde genommen auch in der endlosen Stadt um das Thema Freiheit und Unabhängigkeit der Kunst. Das ist ja auch ein Thema von Holle und Theresa, den beiden Protagonisten in dem aktuellen Roman. So ein bisschen sieht das so aus, als wenn das aktuell so Deine Themenschublade als Autorin ist. Fühlst Du Dich da wohl?
Ich bediene ja keine Schubladen. In meinem Schreiben versuche ich andauernd Schubladen aufzubrechen und Kontexte herzustellen zwischen Themen, die so noch nicht unbedingt vorliegen. Ich vergleiche die prekarisierte Situation einer Berliner Künstlerin auf indirekte Art mit Menschen in schrecklicher Armut in Indien. Das stelle ich einfach kontrastierend nebeneinander. Das ist ein Beispiel für Zusammenhänge und insofern verweigere ich das Schubladendenken. Das ist meine allerhöchste Aufgabe als Autorin.
Buchrevier: Bist Du ein politischer Mensch und insofern auch ein politischer Autor?
Das aktuelle Buch wurde mehrere Male von Rezensenten als politisches Buch beschrieben. Das fand ich gut. Ich selbst hätte das nicht in Anspruch genommen, aber es sind politische Themen, es geht um diese Zusammenhänge zwischen Metropolen, zwischen den Ländern und den Menschen.
Buchrevier: Fändest Du es wichtig, dass Autoren als geistig/moralische Instanz wieder mehr Gehör in Deutschland bekommen? Günter Grass, der letzte Vertreter der politisch engagierten Schriftsteller ist ja jetzt nicht mehr da. Wer könnte in seine Fußstapfen treten? Hättest Du da Ambitionen?
Nein, ich sehe mich da nicht. Heute tun es ja einige Autoren. Mir fällt da als erste Juli Zeh ein, vielleicht noch Ilija Trojanow. Die Grass-Generation ist aber eine ganz andere Generation gewesen. Wie ich gerade sagte, mich interessiert einfach die Kunst, als eine Möglichkeit Menschen zu erreichen. Da fühle ich mich mehr Zuhause, da sehe ich auch meine Stärken.
Buchrevier: Was hältst Du von Literaturblogs? Welche Rolle spielen sie in deinen Augen bei der Literaturvermittlung – auch in Abgrenzung zum klassischen Feuilleton?
Was mir sehr an den Literaturblogs gefällt, ist, dass die Hierarchien dadurch aufgeweicht werden. Da findet eine Dezentralisierung statt, so dass das Hoch-Feuilleton nicht mehr die einzige Instanz ist und somit ein bisschen mehr Demokratie in die ganze Sache reinkommt – das finde ich sehr, sehr positiv. Und es gibt ja wirklich ausgezeichnete Literaturblogs, die auf einem sehr hohen Level operieren, sich sehr tief auseinandersetzen mit Literatur und teilweise auch nicht hinter dem Feuilleton zurückstehen. Ich finde das positiv, aber natürlich gibt es auch Gegenbeispiele, wo es dann schwächer wird, wo es nur um Meinung und Kaufempfehlung geht und nicht mehr richtig begründet wird – aber solche Ausreißer gibt es ja auch im Feuilleton
Buchrevier: Im Moment ist ja die endlose Stadt noch relativ neu. Aber spätestens in ein /zwei Monaten spricht kein Mensch mehr von dem Buch, es sei denn Du gewinnst damit den Buchpreis. Ist das nicht unglaublich frustrierend, dass man als Autor nur so knapp ein Vierteljahr mit einem neuen Buch Aufmerksamkeit hat und dann wieder in der medialen Versenkung verschwindet bis man wieder etwas Neues vorgelegt hat?
Nein, das finde ich gar nicht schlimm. Ich freue mich schon darauf, wenn es mal wieder ruhig wird. Es war jetzt so viel los und es ist auch unglaublich stressig, wenn jeden Tag irgendwo etwas über einen erscheint und man das natürlich mitverfolgt. Das ist eine aufregende Zeit, aber ich bin froh, wenn es wieder ruhiger wird. Denn man kommt in der Zeit überhaupt nicht zum Schreiben.
Buchrevier: Das Leben als Autorin – ist es so, wie Du es Dir vorgestellt hast? Oder wärst du doch lieber Lehrerin geworden?
Nein, das ist ein großartiger Beruf. Ich bin sehr, sehr begeistert. Man kommt in so viele verschiedene Zusammenhänge hinein, zum Beispiel dass man mit dem Außenminister nach Delhi reist. Oder vorgestern war ich im Gefängnis und habe Jugendliche in kreativem Schreiben unterrichtet. Das sind Einblicke in Lebensbereiche, die man mit anderen Berufen so nicht hat.
Buchrevier: Die nächste Reise führt dich (wieder auf Einladung) für ein paar Wochen nach Indonesien. Jetzt wieder eine Killerfrage: Kann es sein, dass dann auch der nächste Roman in Indonesien spielt?
Nein, überhaupt nicht. Weil ich ganz andere Pläne habe, die ich aber jetzt nicht verraten möchte.
Buchrevier: Vielen Dank und viel Spaß in Indonesien und viel Erfolg bei den nächsten Projekten.
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Das Interview gibt es auch in ungekürzter Form als Audio-Podcast.
Ein sehr interessantes Interview – die Fragen, das Nachhaken deinerseits und die Antworten von Ulla Lenze gefallen mir sehr. Doch im Gegensatz zu Frau Lenze, hoffe ich schon, dass jemand die Lücke von Günther Grass besetzt. Wir brauchen in Deutschland diese Freigeister. Solche, die sich politisch engagieren, unbequeme Fragen stellen, Debatten ins Rollen bringen und uns zum Nachdenken bewegen. Ist es nicht so, dass den meisten Mitbürgern und Autoren hierzulande dieser Mut fehlt? Ich habe zuletzt Karine Tuil oder auch Kenneth Bonert gelesen und merke, wie anders sie schreiben. Viel befreiter!
Liebe Grüße,
Tanja
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Hallo Tanja,
ich kann die Unlust der Autoren, sich in politische Debatten einzumischen, sehr gut verstehen. Denn die Streitkultur hat sich durch Facebook & Co. stark verändert. Auch wenn es den erfrischenden, intellektuellen Disput von Angesicht zu Angesicht z.B. auf Podiumsdiskussionen noch gibt, politische Diskussionen im Internet sind oftmals weniger schön, kosten Zeit und Kraft und machen meistens überhaupt keinen Spaß.
Schnell hat man als Autor oder Autorin in der öffentlichen Wahrnehmung ein Image, das vielleicht überhaupt nichts mit meinem literarischen Werk zu tun hat und auch dem Verkauf nicht zuträglich ist. Vielleicht raten ja auch die Verlage den Autoren, sich bei gewissen Themen nicht zu weit aus dem Fenster zu lehnen.
Ich weiß nicht, ob zum Beispiel Juli Zeh mit Ihrer Debattenfreudigkeit mehr Leser auf ihre Bücher aufmerksam gemacht oder eher abgeschreckt hat. Auch Günter Grass hat mit seinen politischen Aussagen bei konservativen Wählerschichten sicherlich kein gesteigertes Interesse für seine Romane wecken können. Wer Freigeist sein will, muss auch frei von finanziellen Zwängen sein.
Letztlich ist das aber auch so ein Generationen-Ding. Vielleicht sieht es in ein paar Jahren schon wieder ganz anders aus.
Liebe Grüße
Tobias
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