Die 10 besten Bücher des Jahres

 

Ausgewählte Buchrevier-Kommentare zu den Lesehighlights des Jahres. 


Thomas Melle – Die Welt im Rücken

JetztU1_978-3-87134-170-0.indd heißt es überall zunächst einmal: Was? Der Melle ist irre? Und ich so: Hab ich mir doch gleich gedacht. Und mein Über-Ich sofort: Ach komm, hör auf. Aber es ist tatsächlich wahr. „Die Welt im Rücken“ ist autobiografisch, Melle ist Melle und keine Romanfigur. Er hat das Versteckspiel satt und sagt es frei heraus: Ja, ich bin krank, manisch-depressiv oder neudeutsch: bipolar gestört. Und er ist es immer noch, wird das nie wieder los, kann keine Entwarnung geben, uns kein Happy End anbieten.

 

Shida Bazyar – Nachts ist es leise in Teheran

9783462048919-cover-lShida Bazyar kann nicht nur wahnsinnig gut schreiben. Nein, das können viele, das trifft es nicht. Sie ist so etwas wie ein literarisches Megatalent. Eine Akrobatin, jemand, der mit Wörtern jongliert, sie ohne große Mühe zu kunstvollen Satzgebirgen aufstapelt, sie wieder einstürzen lässt und im freien Fall neu auf der Seite verteilt. Sie formt Sätze, die geschliffen, präzise und vollkommen sind und an keiner Stelle mehr verbesserbar. Lange Sätze, kurze Sätze, Satzfragmente. Alles ist sehr verschachtelt, es gibt kaum Absätze und keine wörtliche Rede.

 

Michael Kumpfmüller – Die Erziehung des Mannes

9783462044812-cover-lAm Ende des Romans ist Georg über sechzig und blickt erschöpft zurück. ‚Er war stets bemüht‘, würde im Arbeitszeugnis seines Lebens stehen. Einer, der bei Vorgesetzten und Kollegen gleichermaßen beliebt war und sich durch sein großes Einfühlungsvermögen ausgezeichnet hat. Doch leider fehlte ihm bei der Durchsetzung seiner Ziele die nötige Konsequenz und die Fähigkeit, Dinge auch gegen starke Widerstände durchzusetzen. So konnte Georg die ihm übertragenen Lebensaufgaben leider nicht zur vollsten Zufriedenheit ausführen. Er verlässt uns nach 315 Seiten auf eigenen Wunsch, um sich mit seiner Geschichte für die Shortlist des deutschen Buchpreises zu bewerben.

 

Philipp Winkler – Hool

Winkler-Hool-SUNatürlich ist es in erster Linie das Thema, das zieht. Hooligans – da läuft es jedem Bildungsbürger erstmal kalt den Rücken runter. Man kennt sie nur als amorphe, grölende Masse, hinter den Absperrgittern der Nord- oder Südkurve, an Spieltagen von einer Hundertschaft durch die Stadt zum Stadion eskortiert. Wer mit so einer bierseligen Horde schon mal im selben Zug gesessen hat, weiß Bescheid. Jetzt gibt es also den ersten literarisch anspruchsvollen Roman, der in dieser Szene spielt. Wobei von der Kritik nicht nur der literarische Anspruch in Frage gestellt wird, sondern auch, dass das Thema wirklich neu sei.

 

Julian Maclaren-Ross – Von Liebe und Hunger.

 MacLaren-Ross_Von Liebe und Hunger#2.inddAlles in allem ist dies eine wunderbare literarische Wiederentdeckung, ein tolles Lesevergnügen und eine besondere Empfehlung für die letzten lesenden Männer. Dieser Roman ist ehrlich und authentisch, klar auf den Punkt und dabei lässig und entspannt – so wie Männer insgeheim alle gerne wären, wenn ihnen da nicht immer irgendetwas dazwischen kommen würde: Frauen, Kriege oder einfach nur die eigenen Unzulänglichkeiten. Maclaren-Ross ist der Alkohol und dann schließlich mit 52 Jahren ein Herzinfarkt dazwischen gekommen. Zu jung zum Sterben und zu alt, um unsterblich zu werden.

 

David Vann – Aquarium.

9783518425367-cover-lAls Leser lässt einen die Geschichte auch deswegen schon nicht kalt, weil sich parallel eine zweite Ebene aufbaut. Die eigene Geschichte, meine Kindheit, all das was ich meinen Eltern nicht verzeihen kann, das, was mich heute noch blockiert, was ich mir anders gewünscht hätte, was man aber einfach nicht mehr rückgängig machen kann. Wenn man nachdenkt, findet sicherlich jeder Ereignisse im Leben, an denen sich etwas entschieden hat. Wo auf einmal klar war, das ist jetzt der Weg, den du gehen musst, ob dir das nun gefällt oder nicht.

 

 

Juli Zeh – Unterleuten

Unterleuten von Juli ZehSo lass ich mir Gesellschaftskritik gerne gefallen. Gekonnt und intelligent in Szene gesetzt. Natürlich werden auch hier Klischees bedient – der Computernerd, der Investor aus Rüsselsheim, der Möchtegernschriftssteller – aber Juli Zeh verschont uns mit ausgelutschten Phrasen und verknüpft jede Position in der Unterleutener Windkraft-Debatte mit einem persönlichen Schicksal. So durchlebt man mit jeder Figur alle Argumente und versteht auf einmal jeden einzelnen Standpunkt. Das ist grandios und prinzipiell genau das, was uns bei allen öffentlichen Debatten immer wieder fehlt: Verständnis für die Sichtweise des jeweils anders Denkenden. Eigentlich ganz einfach und trotzdem unglaublich schwer.

 

Benjamin von Stuckrad-Barre – Panikherz

9783462048858-cover-lVielleicht musste es so weit mit ihm kommen, damit er genau dieses eine Buch schreiben konnte. Das deswegen so gut ist, weil es nicht ausgedacht, nicht konstruiert ist. Weil er den Absturz aus dem Popolymp ins Hamburger Bahnhofsviertel wirklich praktiziert hat, weil er auf seine eigene Person keine Rücksicht genommen hat, nichts beschönigt und jede einzelne Schwäche offenbart hat. Und es ist ganz besonders gut, weil BSB einfach schon immer ein großes Schreibtalent war und sich diese Fähigkeit nicht nur bewahrt, sondern verfeinert hat. Wie ein alter Wein, hat er jetzt noch mehr Ausdrucksstärke und Charakter. Es macht einfach Spaß, seinen Sätzen zu folgen, dieses Wechselspiel aus distanzierter Überheblichkeit und dem schonungslosen Alle-Karten-Offenlegen.

 

Heinz Strunk – Der goldene Handschuh

9783498064365-cover-lUnd wenn du gar nichts mehr hast, kein Zuhause, keine Hoffnung, nichts als eine Plastiktüte voller Habseligkeiten und einen nicht zu stillenden Durst auf Alk, dann gehst du für eine Flasche Korn wahrscheinlich überall mit hin. Auch mitten ins sichere Verderben – in diesem Fall Honkas stinkende Mansardenwohnung in Altona.

 

 

 

Joachim Meyerhoff – Ach, diese Lücke, diese entsetzliche Lücke

9783462048285-cover-lJa, es kommt vor, dass ich ein Buch lese und nichts darüber schreibe. Das heißt aber nicht, dass ich es nicht gut finde. Dieses hier zum Beispiel: Meyerhoffs dritten biografischen Roman finde ich nicht nur gut, ich finde ihn super gut. Ich weiß gar nicht, warum ich darüber nichts geschrieben habe. Wahrscheinlich weil schon so viele andere das getan haben, weil alle immer nur begeistert sind, weil jedem beim Lesen einfach warm ums Herz werden muss und ich nicht zugeben wollte, dass es mir genauso ergangen ist.

 

 

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Titelfoto: Gabriele Luger

 

10 Kommentare

  1. Auf meiner Liste steht „Nach einer wahren Geschichte “ v Delphine de Vigan ganz oben. Der Melle ist bei mir sicher auch unter den Top-Five. Unterseiten hat mir gut gefallen aber nicht herausragend. Der Rest deiner Liste steht bis auf eines alles noch ungelesen hier rum.

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  2. Mady Riehl sagt, dass wir den Meyerhoff abziehen müssen, weil von 2015 😉
    Schöne Liste, auch wenn wir „nur“ zwei Überschneidungen haben.
    Schönen Gruß, Axel

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  3. Bei Sounds & Books wird es auch noch so eine schöne Liste geben, allerdings erst nach Weihnachten. Hier liegen nämlich noch zwei, drei interessante Bücher mit Potential für die Bestenliste. Die muss ich natürlich noch lesen. Aber „Unterleuten“ von Juli Zeh wird definitiv auch dabei sein. Viele Grüße, Gérard

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  4. Gute Idee einer solchen Liste, da muss ich mich auch mal dransetzen. Zwei deiner Bücher werden definitiv auch auf meiner Liste stehen (nämlich Juli Zeh und Heinz Strunk), den Meyerhoff werde ich ausklammern, da aus dem letzten Jahr und auch schon damals gelesen. Vielen Dank für die Anregungen!

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  5. Gibt es hier ein Vetorecht ? 😀 Ich hab den ganzen Herrn Meyerhoff überhaupt nur entdeckt, weil er auf der Longlist stand – das muss doch was wert sein 😀 Ich hab ihn jedenfalls gerade als Lektüre und bin schwer begeistert davon, dass ich noch niemals an Shalimar roch, jetzt aber eine Vorstellung von diesem Duft habe – das muss man erst mal können 😀

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