Édouard Louis – Im Herzen der Gewalt

Ich finde solche Geschichten ja immer etwas übergriffig. Da lässt einer die Hosen runter, erzählt schonungslos von einem schrecklichen Erlebnis, von Demütigung, Raub, Vergewaltigung, versuchtem Mord. Er beschreibt seine Todesangst, die Schmerzen, das Davor und das Danach, die Konsequenzen, die Rückblenden, die quälenden Gedanken und Erinnerungen. Für ihn ist danach nichts mehr so, wie es vorher war. Das alles schreibt er auf, macht sich nackig, lässt nichts aus, schont und schützt sich nicht.

Was soll, was kann man als normal empfindender Mensch anderes dazu sagen, außer: Chapeau! Kompliment, das ist mutig, wichtig, vorbildlich. Vielleicht noch: tut mir leid, das hat mich tief bewegt, mich wütend und traurig gemacht. Aber es ist richtig und wichtig, dass das mal aufgeschrieben wurde. Nicht nur der Vorfall an sich, auch das Danach, das Verarbeiten, die Strafverfolgung, die erneute Demütigung, all die Urteile und Vorurteile. Das alles passiert ja immer wieder, ist beileibe kein Einzelfall. Ein wichtiges Buch, gerade heutzutage, das einen zwingt, auch mal wieder über Verständnis und Toleranz nachzudenken.

So weit so gut. Aber wenn man nun eine ganz andere Meinung zu diesem Buch hat? Wenn man es übertrieben, langatmig, aufgeblasen, nervtötend, kalkuliert und in höchstem Maße übergriffig findet, ist das dann auch ok? Oder ist man dann automatisch unsensibel, ein ungehobelter, grober Klotz, ohne Empathie und Mitgefühl? Darf man so eine persönliche Beichte, einen Therapieroman überhaupt kritisieren? Den Aufbau, die Lesestimmung, die Dramaturgie? Ist es legitim, dem Autor vorzuwerfen, dass die vielen Erzählperspektiven sich nicht stimmig zusammenfügen? Darf man sich überhaupt ein Urteil erlauben, wenn man selber nichts vergleichbar Schreckliches erlebt hat?

Das meine ich, wenn ich sage, die Geschichte ist übergriffig. Als Leser ist man im Opferschutz-Programm gefangen. Ich fühle mich nicht frei, anders zu urteilen, als wie der Klappentext es vorgibt: „…ein literarischer Schock“, „mutig und aus tiefer Notwendig heraus geschrieben “, „nuanciert, aufwühlend, sprachgewaltig“ von “einem der bedeutendsten Autoren seiner Generation“. Das sind die politisch korrekten Meinungsbilder, das darf gesagt werden. Alles andere verbietet einem der Respekt vor dem Geschehenen und der Person des Autors.

Und jetzt frage ich mich, warum müssen wir Leser eigentlich wissen, dass dieser Roman autobiografisch ist? Um die erzählerischen Schwächen durch ein Mehr an Authentizität wieder auszugleichen? Wie dem auch sei, mich hat das Beschriebene weder geschockt, noch fand ich es erzählerisch oder sprachlich besonders. Es hallt nicht nach, es bleibt nichts zurück. Ich hab’s vor knapp zwei Wochen gelesen und fast schon wieder vergessen.

Erinnern tue ich mich aber an den erhobenen Zeigefinger, mit dem der Autor auf Vorurteile und Ressentiments gegenüber Ausländern und Homosexuellen hinweist. Und das ist insofern besonders fragwürdig, weil alles, was passiert, eigentlich den gängigen Klischees entspricht. Spontaner, schneller Sex mit einem Unbekannten – das scheint nicht ungewöhnlich in der Schwulenszene zu sein. Ebenso klischeehaft ist das Bild des Nordafrikaners, der körperliche Nähe sucht, um einen zu beklauen. Und wenn Edouard Louis dann betont, dass der Täter kein normaler Algerier, sondern ein Kabyle ist, sagt das in meinen Augen gar nichts aus und ist stattdessen nur eine andere Form von Rassismus.

Ich habe mir den Autor bei Youtube angeschaut. Ein sehr sympathischer Kerl – introvertiert und nachdenklich. Kein aufgeregtes Huhn, kein Show-Typ. Ich nehme ihm ab, dass er aus dem Erlebten keinen Profit schlagen wollte. Dass er nur nach einem Weg gesucht hat, das alles zu verarbeiten. Es tut mir ehrlich sehr leid, was ihm passiert ist. Aber berührt hat mich seine Geschichte nicht.

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Foto: Gabriele Luger

Verlag: S. Fischer
217 Seiten, 20,00 Euro
Aus dem Französischen übersetzt von Hinrich Schmidt-Henkel

Weitere Besprechungen zu dem Buch bei: Masuko13letteratura und Literaturen

 

2 Kommentare

  1. Gute Frage – ich denke, die technischen Erzählschwächen, die sollte man schon kritisieren dürfen. Dass man weiß, dass das Buch autobiographisch gefärbt ist – ich glaube, kein Autor kann wirklich objektiv schreiben, ohne nur einen Hauch von Autobiographie einfließen zu lassen – sollte nicht maßgeblich sein für den eigenen Standpunkt. Auch wenn der Inhalt noch so wichtig ist, dann darf einem die Ausführung auch nicht gefallen müssen/dürfen. Und wenn Kritik sachlich angebracht ist, ist alles wunderbar. Ich habe auch hin und wieder überlegt, mich aber dann doch gegen die Lektüre (zumindest im Moment) entschieden. LG,Bri

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