Emmanuelle Pirotte – Heute leben wir

Es gibt definitiv zu viele Bücher auf dem Markt. Wie anders ist es sonst zu erklären, dass ein Juwel wie dieses hier, eine ergreifende und gekonnt erzählte Geschichte mit einem echten USP, so überhaupt nicht beachtet wird. In meiner durchaus literaturaffinen Filterblase findet dieser Roman nicht statt. Und da das Buch bereits aus dem Frühjahr ist und jetzt schon wieder auf das Herbstprogramm geschaut wird, wird sich das wohl auch nicht mehr ändern. Das Ding ist durch, hat nicht gezündet, weiß der Geier warum.

Vielleicht, weil alle damit beschäftigt waren, die Lesezeit fressenden Tausendseiter von Hanya Yanagihara und Paul Auster zu lesen – die definitiven Must-Reads der Saison. Vielleicht aber auch, weil der Verlag mit dem Cover und einem an Dale Carnegie und Nicolas Sparks erinnernden Allerwelts-Titel mal wieder voll daneben gegriffen hat. Die Aufmachung, die Mainstream-Unterhaltung für die weibliche Zielgruppe verspricht, hat mich natürlich überhaupt nicht angesprochen. Und wenn der Verlag mir das Buch nicht als Leseexemplar einfach ungefragt zugeschickt hätte, wäre es auch an mir komplett vorbei gegangen.

Aber hässliche Schutzumschläge kann man ja abmachen und sich so auf das konzentrieren, was ein Buch wirklich ausmacht: den Inhalt. Und hier hat der Debütroman der Belgierin Emmanuelle Pirotte jede Menge zu bieten. Es gehört schon was dazu, wenn man mit einer Geschichte über die Judenverfolgung durch die Nazis heutzutage noch einen literarischen Blumentopf gewinnen will. Das Thema ist eigentlich zur Genüge auserzählt, sollte man meinen. Und doch hat es Pirotte geschafft, hier noch einmal eine ganz andere Sicht auf die vielen sich ähnelnden Familientragödien und Kriegsschicksale aufzuzeigen.

Erzählt wird die Geschichte des kleinen jüdischen Mädchens Renée, die ihre Eltern durch den Naziterror verloren hat und bei einer belgischen Gastfamilie untergekommen ist. Die Alliierten sind auf dem Vormarsch und ein Ende des Krieges absehbar. Aber noch sind die Deutschen überall – verwundet und daher umso gefährlicher. Auf der Flucht gerät Renée in die Fänge von zwei SS-Elitesoldaten, die sich als Amerikaner getarnt haben. Sie wird in den Wald geführt und soll erschossen werden. Doch im letzten Moment dreht sie sich um und sieht dem Soldaten, der die Waffe auf sie richtet, in die Augen. Und der erschießt dann nicht sie, sondern seinen Kameraden und nimmt das Mädchen mit auf die Flucht durch die Ardennen. Sie verstecken sich in einer Berghütte, und es entwickelt sich eine an das Stockholm-Syndrom erinnernde Zuneigung zwischen der kleinen Jüdin und dem SS-Schergen.

Eigentlich ist die Geschichte so kitschig und unglaubwürdig wie nur irgendwas und passt prinzipiell voll zum Cover des Buches. Aber uneigentlich habe ich das beim Lesen überhaupt nicht so empfunden. Ganz im Gegenteil. An keiner Stelle habe ich auch nur ansatzweise mit den Augen gerollt oder mit dem Kopf geschüttelt. Das unschuldige Lamm und der böse Wolf – so eine Geschichte muss man erstmal erzählen, ohne altbekannte Klischees zu bedienen oder sich in Übertreibungen zu verlieren. Ich habe der Autorin von der ersten bis zu letzten Seite alles abgenommen. Weil die Protagonisten authentisch sind und die Sprache schnörkellos und treffend. Weil sie sich – und das ist der USP – nicht in gängigen Rollenbildern verliert, sondern unsere Vorstellungen von Gut und Böse gehörig durcheinander wirbelt. So sehr, dass man tatsächlich am Ende auf Seiten des skrupellos tötenden SS-Offiziers Matthias steht, der reihenweise Freund und Feind die Kehle durchschneidet, nur um mit dem kleinen Judenmädchen zusammen zu sein.

„Heute leben wir“ ist eine gekonnt erzählte, herrlich spannende und bewegende Geschichte, die mich ein wenig an Ralf Rothmanns letzten Roman „Im Frühling sterben“ erinnert hat. Diese Zeit, wenn der Krieg eigentlich schon entschieden ist, es um nichts mehr geht und trotzdem immer noch gestorben wird. Pirotte hat die Sinnlosigkeit des Sinnlosen, diese Stimmung zwischen Hoffen und Bangen, Krieg und Frieden wunderbar eingefangen. In Frankreich hat dieser Roman hohe Wellen geschlagen. Vielleicht bekommt hierzulande das Buch ja doch noch die verdiente Aufmerksamkeit, wenn demnächst der Film dazu in die Kinos kommt.

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Foto: Gabriele Luger

Verlag: S. Fischer
287 Seiten, 20,00 €
Übersetzung: Grete Osterwald

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