…wenn man nichts darüber schreibt.
Mein Gehirn ist wie ein Sieb. Alles was nicht groß und bedeutend genug ist, fällt hindurch und ist für immer verloren. Und das nicht erst in ein paar Monaten oder Jahren, sondern bereits nach wenigen Tagen. So jüngst geschehen in den vergangenen acht Wochen. Ich habe in dieser Zeit viele Bücher gelesen und genauso viele gehört. Doch diesmal habe ich mir nichts angestrichen, mir keine Gedanken über eine mögliche Bewertung gemacht, mir den Luxus erlaubt, auch mal keine Meinung zu haben. Ich wollte einfach nur mal wieder Literatur genießen. So wie früher, als ich noch kein Blogger war.
Und jetzt? Wo sind die ganzen Geschichten hin? Ich kann mich kaum erinnern, könnte nicht mal mehr alle Titel benennen. Einige Bücher haben mir ganz gut gefallen, das weiß ich noch. Aber ich könnte kaum sagen, was mir daran so gut gefallen hat und warum.
Am besten kann ich mich noch an Svenja Gräfens „Freiraum“ erinnern. Ich mochte ihren Debütroman, der sprachlich sehr besonders war. Auch mit ihrem zweiten Werk beweist Gräfen, dass sie mit Sprache umgehen kann. Fein komponierte Sätze, Rhythmus, Gefühl. Und dazu ein interessantes Setting: zwei Lesben, die aufs Land in eine Art Kommune ziehen und sich ein gemeinsames Kind wünschen. Das hat Potenzial, dachte ich mir, und auch wenn das so gar nichts mit mir zu tun hat, habe ich mich in so mancher Überlegung der Protagonistinnen wiedergefunden. Doch irgendwie fehlte mir das Durchhaltevermögen für diesen Roman. Urplötzlich hatte ich genug von diesem queeren Setting und wollte zurück in mein schön geordnetes, heteronormatives Leben. So habe ich es fünfzig Seiten vor dem Ende einfach liegen gelassen und nach dem nächsten Buch gegriffen, dessen Erzählumfeld mir ebenfalls mehr als unangenehm war.
Die Rede ist von John Wrays jüngstem Roman „Gotteskind“, einem Taliban-Epos, dessen Cover leider völlig misslungen ist. Abgebildet ist das Wappentier der USA, ein Weißkopfadler, dessen Kopf mit einem roten Seil mehrfach in Form eines Turbans umschlungen ist, so dass nur noch der Schnabel zu sehen ist. Von Büchergilde-Lizenzausgaben weiß man ja, dass es meistens in die Hose geht, wenn ein Illustrator versucht, komplexe Romaninhalte zu visualisieren. Aber Rowohlt kann das jetzt scheinbar auch. Wie auch immer – erzählt wird die Geschichte einer jungen Amerikanerin muslimischen Glaubens, die als Mann verkleidet nach Afghanistan reist, um dort den wahren Glauben und eine wie auch immer geartete Erlösung zu erfahren. Es liest sich leicht, ist auch durchaus spannend, trotzdem habe ich auch diesen Roman mittendrin abgebrochen. Dann nämlich, als sich alles immer weiter auf ein zu erwartendes Ende zuspitzte, die als Mann verkleidete Protagonistin in den Dschihad zog und später mit Sicherheit auch irgendwann als Frau erkannt und von einem Scharfschützen oder einer Drohne getötet werden wird. Ob das tatsächlich passiert, werde ich leider nie erfahren.
Aber was ist eigentlich schlimmer? Den Ausgang einer Geschichte nicht zu erfahren, weil man sie nicht zu Ende gelesen hat, oder aber alles Gelesene innerhalb weniger Tage zu vergessen, weil es zu belanglos und auswechselbar war. Wie zum Beispiel bei Maxim Leos Familiengeschichte „Wo wir zu Hause sind“ – einer von gefühlt tausend Geschichten über Flucht, Vertreibung und Wiederkehr, die in meinen Augen überhaupt gar nichts Eigenständiges hatte und bereits beim Lesen der letzten Seiten in Vergessenheit geriet. Ganz anders ist es mir mit Peter Høegs „Durch deine Augen“ ergangen, einer Art Wissenschaftsroman über Experimente, mit denen man visuelle Einblicke in die menschliche Psyche erlangt. Das Thema hat mich fasziniert, die Charaktere und das Setting waren sehr eindringlich geschildert. Aber das Ergebnis ist nicht viel anders, als bei Maxim Leo. Ich habe über 90 Prozent des Romans vergessen, kann jetzt kaum mehr über dieses Buch sagen, als dass es mir gut gefallen hat.
Jedenfalls besser gefallen als meine erste Begegnung mit dem gerade wiederentdeckten Macho-Kultautor Jörg Fauser. Diogenes legt ja gerade alle Werke wieder auf, und das habe ich zum Anlass genommen, seinen Kriminalroman „Der Schneemann“, der bei mir schon ein paar Jahre ungelesen im Regal steht, mit in den Urlaub zu nehmen. Und ja, ich habe ihn gelesen – viel mehr kann ich darüber kaum sagen. Für einen Krimi ziemlich unspannend, und was an Fausers Schreibstil so besonders sein soll, erschließt sich mir beim besten Willen nicht. Ich bin kein Krimi-Experte, aber Chandler und Hammett gefallen mir besser.
Urlaubslektüre Nummer 2 war da schon wesentlich erfreulicher und passte auch vom Setting her perfekt zu unserer diesjährigen Urlaubsreise durch den Osten Deutschlands. Denn auch der Journalist Cornelius Pollmer hat den wilden Osten bereist, etwas systematischer als wir, nämlich auf den Spuren von Theodor Fontane, und seine Erlebnisse und Begegnungen in dem bei Penguin erschienenen Buch mit dem launigen Titel „Heute ist irgendwie ein komischer Tag“ zusammengefasst. Ich habe die sehr abwechslungsreichen und unterhaltsamen Geschichten sehr gerne gelesen. Vielleicht, weil ich Brandenburg-Fan bin, vielleicht auch aus irgendeinem anderen Grund, den ich aber – wen wundert‘s – längst vergessen habe.
Und so geht es weiter, mit mehr oder weniger verflüchtigten Lese- und Höreindrücken: Von Wolfgang Herrndorfs „In Plüschgewitter“, Eric Vuillards „Tagesordnung“ und Richard Yates „Zeiten des Aufruhrs“, die mir allesamt ziemlich gut gefallen haben, bis hin zu echten Enttäuschungen wie dem jüngsten Roman von Charles Lewinsky „Der Stotterer“ und Belanglosigkeiten wie Rath & Rais Comedy-Krimi „Tote haben kalte Füße“.
Das „Wieso, Weshalb, Warum“ muss ich in all diesen Fällen schuldig bleiben. Wie gesagt: Mein Gehirn ist wie ein Sieb, und wenn ich nicht unmittelbar nach der Lektüre meine Eindrücke als Buchrevier-Beitrag speichern würde, wäre es wahrlich nicht viel, was so vom Lesen übrig bleibt.
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Foto: Gabriele Luger
Da hätt ich doch eine Idee. Wie wär’s mit dem Original, also Fontane? Wanderungen durch die Mark? Aber zugegeben, mir geht das auch oft so – ich habe doch das und das (oder hieß es doch anders?) von dem oder dem gelesen, wie war das noch? Nicht gut, wenn man ein Buch vorstellen, besprechen will. Für einen selbst nicht so schlimm, da hilft einem die gute, alte Psychologie, Onkel Freud und letztlich der Traum: es geht wie bei jedem guten Messi nicht etwa verloren, es liegt nur nicht abrufbereit in einer aufgeräumten (heute schwer im Trend: Minimalisten-) Schublade, sondern irgendwo in dem Wust, wird aber verarbeitet. Wer sich in ein Waldrevier begibt muß gewiß wichtige Einzelheiten, je nach seiner Absicht, wahrnehmen, aber er muß auch den Wald, die Stimmung auf sich wirken lassen. Mit allen Sinnen. Der gesuchte Hirsch zeigt sich nicht dem, der nach ihm und nur ihm krampfhaft Ausschau hält. Sondern dem im gesamten Umfeld selbst still Ruhenden. Irgendwann. Schlechtes Beispiel, sollten wir Verwandlungskünstler nehmen, Schmetterlinge etwa?
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Ich schwanke oft bei meiner Ansicht – ist es nun besser, die Bücher einfach befreit zu lesen, ohne sich Notizen zu machen oder ist gerade dieses Anstreichen und Notieren für mich unverzichtbar. Ich denke gerade an den wunderbaren Roman „Das Norman-Areal“ von Jan Kjaerstad, in dem es um einen Lektor eines großen Verlages geht, der ein Notizbuch angelegt hat, um sich seine Gedanken zu seine Lektüren niederschreibt; eine Lesebiografie quasi. Vielleicht kommt es da wirklich auf die Bücher an, die belanglosen fallen durchs Sieb und die bedeutenden bleiben haften. Ich merke persönlich, dass es mir schwerfällt nach einem wunderbaren Buch eine passende Anschluss-Lektüre zu finden, trotz voller Regale stehe ich eben recht lange vor ihnen und schaue und schaue…. Viele Grüße PS: auf den Pollmer bin ich gespannt.
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Moin Tobias!
Seit einem Jahr blogge ich. Seit einem Jahr lese ich konzentrierter, ausdauernder und häufiger. Seit einem Jahr mache ich mir (mehr oder weniger) tiefschürfende Gedanken über das Gelesene. Seit einem Jahr lese ich aber auch kein Buch mehr „einfach nur so“ an der schieren Freude am Lesen. Was ist besser? Was scheint nur besser? Und vor allem: Wie möchte ich es jetzt gerade in diesem Moment?
Ich lese und blogge unter folgenden Prämissen: Spaß und Mittelmaß. Lesen und Bloggen sind eine wunderbare Bereicherung meines Lebens, sind meine Hobbies und sollten mir somit Spaß bereiten. Damit dies für mich auch so bleibt, muss ich immer wieder mein persönliches Mittelmaß finden – nicht im Sinne von mittelmäßig, sondern als Balance zwischen meinem persönlichen Anspruch und meinem persönlichen Entertainment. Natürlich helfen mir meine selbst verfassten Rezensionen dabei, mich an das Gelesene besser zu erinnern. Und trotzdem vergesse auch ich sehr viel von dem Gelesenen, und das Recht, zu vergessen, gestehe ich mir auch zu. Jeder Mensch, der viel liest, wird auch viel vergessen. Trotzdem bin ich davon überzeugt, dass das Gelesene eine Spur bei mir hinterlässt – manchmal ein Gefühl, manchmal nur ein Gedanke, manchmal nur…!?
Darum: Sei gnädig mit Dir! Und: Wie möchtest Du es jetzt gerade in diesem Moment?
Gruß
Andreas
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Danke für diesen Artikel! Es tut gut zu lesen, dass es anderen mit manchen Büchern genauso geht wie mir. Dieses „sich nicht mehr erinnern können“, da habe ich sehr lange an meinem eigenen Gedächtnis gezweifelt, bis ich wieder angefangen habe, Bücher zu lesen, die mich wirklich interessieren oder zu denen ich einen anderen, einen eigenen Bezug habe. Plötzlich blieben die Ideen des Autors und der Inhalt wieder bei mir.
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Deshalb bloggen, hilft mir viel, verlinken vielleicht auch
https://literaturgefluester.wordpress.com/2019/02/15/gottes-kind/
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